Warum sich Call Center in der Weisheit der Vielen verflüssigen

von Gunnar Sohn
29. August 2013
Wie berechenbar ist der Mensch?

Egal, ob sich Big Data-Gurus als Welterklärer inszenieren, Social Media-Tool-Boys von der perfekten Steuerung der Internet-Nutzer schwadronieren oder die NSA aus Nutzerprofilen vermeintliche Terrorgefahren generiert, die niemand überprüfen oder verifizieren kann: Die zur Schau gestellten Gewissheiten über die Entwicklung des Netzes sind langweilig, überflüssig oder auch gefährlich (Stigmatisierung durch die NSA-Zahlendreher).

Wer tiefgründige Prosa lesen möchte, sollte sich das Matthes & Seitz-Bändchen „800 Millionen“ von Alexander Pschera besorgen und studieren. In schönster Prosa erschließt er das Wesen sozialer Netzwerke fernab von der lauten Ich-weiß-was-Geräuschkulisse der vermeintlichen Social Web-Insider.

Es geht Pschera um eine humane Sprache und nicht um die üblichen technischen Beschreibungen von Netz-Phänomenen. Soziale Medien sind eine poetische Konstruktion, die uns auf eine neue Ebene des Sprechens und des sozialen Miteinanders heben kann.

„Als bloße Mode wären die sozialen Medien etwas, das uns zufällt und wieder entfällt, etwas Beliebiges, das stets in sich selbst endet: Leerlauf des Gegenwärtigen, totale Immanenz. Vor allem: reiner Ich-Bezug.“

Es geht aber nicht um eine modische Opportunität, mit der man irgendwelche Begehrlichkeiten befriedigen kann – auch wenn das Online-Marketing-Bubis anders darstellen.

„Das soziale Netz der Interaktion ist nicht etwas, dem wir gegenüberstehen, sondern es ist ein sich allein durch unsere Aktivität ausdehnender Raum„, so Pschera.

Soziale Medien werden von einer Logik der Versprachlichung beherrscht. Alles, was ausgesprochen werden könne, kommt zur Aussprache. Die Netz-Anarchie der Privatsprachen zersetze den Code allgemeingültigen Sprechens. Das soziale Netz sei ein System der sozialen Unordnung – auch wenn das Tool-Freaks und NSA-Agenten wieder in eine Form der Ordnung bringen und mit ihren Zahlen-Friedhöfen irgendetwas erklären wollen.

„Die Bewegung der Netzkommunikation ist ein stetes Sagen, Weiter-Sagen, Kommentieren, Anfügen. Alles ist hier verflüssigt, nichts verhärtet sich zum Dokument“, so der Matthes & Seitz-Autor.

Das Social Web sei diskontinuierlich, unverbindlich und momentbezogen. Nichts schließt an anderes an, alles beginnt wieder von Neuem. In Anlehnung an die Zwitscher-Maschine von Paul Klee gibt es keine Mechanik des Zweckhaften. Bildhaft erinnert das an die Logik von Twitter. Es geht um das spontane Festhalten von Lebensmomenten und verhilft uns zu einem neuen Sprechen des Augenblicks. Das Netz ist eine unlesbare Textur von Millionen Autoren – auch wenn Zielgruppen-Marketing-Fliegenbeinzähler das Gegenteil insinuieren.

Schlaue Antworten über Twitter

Aus dieser unlesbaren Textur kann Idiotisches und auch sehr Intelligentes hervor scheinen. Es geht dabei nicht um die Klugheit der Masse, die als Schwarmintelligenz verklärt wird. Mit den Möglichkeiten der Vernetzung im Web erhöht sich allerdings die Wahrscheinlichkeit enorm, auf kluge und weise Menschen zu stoßen, die einen hilfreichen Beitrag zu einem Thema leisten können – ohne zentrale Steuerung, ohne skriptgesteuerte Kunden-Hotline-Dressur und ohne Zehn-Goldene-Regeln-für-den-Social-Web-Erfolg.

Es ist also weniger echte Weisheit gemeint, „sondern vielmehr ein implizites Wissen, das sich aus den miteinander vernetzten Handlungen vieler einzelner Menschen speist“, so Sascha Lobo in seinem Essay „Vom Wert der Vielen“.

Das Internet wirke wie eine verlängerte Wissenswerkbank. Eine konkrete Frage, in das soziale Netzwerk Twitter eingespeist, werde von der Verfolgergemeinschaft oft präziser und verständlicher beantwortet, als es eine Suchmaschine wie Google, Bing oder WolframAlpha je könnte – ab einer bestimmten Größe der vernetzten Gemeinschaft weiß immer irgendjemand die richtige Antwort. Erst die soziale Vernetzung und die dazugehörende Anerkennung – das soziale Kapital – machten die Suche erfolgreich. „Human Google“ laute daher ein augenzwinkernder, aber nicht unberechtigter Spitzname für Twitter.

Controlling-Schamanen mit Schwimmflügelchen

Man könnte soziale Netzwerke und die Welt der Controlling-Gichtlinge auch als Antipoden im Sinne von Hans Magnus Enzensberger definieren: Zufall versus Kalkül. Die Controlling-Gichtlinge zappeln hilflos in einem Meer der Ungewissheit und verkaufen der Öffentlichkeit ihre Kontroll-Schwimmflügelchen als stabile Garanten gegen die Gefahr des Ertrinkens. Sie sind die neuzeitlichen Schamanen, Wahrsager, Magier, Sterndeuter und Priester des Kalküls – sie sind die Wegbereiter zur Rationalisierung des Glücks. Sie sind die Apologeten, die das Ende des Zufalls einleiten und sich als Klatschbasen der Statistik verdingen. Lebensmotto: Was scheren mich meine Fehlprognosen von gestern – das rechnet doch eh keine Sau nach. Ziehen wir die Wissensanmaßung der Algorithmen-Jünger ab, bleiben eben nur die Plastik-Schwimmflügel übrig. Eine magere Ausbeute.

Wie groß ist da der Kosmos des Zufalls sowie das Prinzip von Versuch und Irrtum. Das ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern ein Denkanstoß für die Vorteile eines Netzes ohne zentrale Steuerung. Wer auf die Netzwerkeffekte und die Weisheit der Vielen setzt, erhöht die Optionen, um auf nützliches Wissen zu stoßen.

Bei meinem Sohn kann ich das sehr gut beobachten. Es gibt kaum noch ein Problem seines Alltagslebens, das er nicht über irgendein How to-Video in der zweitgrößten Suchmaschine namens Youtube löst. Etwa die Installation unserer Android-Spielekonsole OUYA, Bindungsprobleme seines Snowboards oder die Startfunktion eines RC-Modellautos. Weltweit geben Privatmenschen ihr Expertenwissen preis, um anderen Menschen zu helfen.

[youtube=http://www.youtube.com/watch?v=LJnpkyzcZV0&w=588&h=331]

 

Unternehmen sind übrigens, so die Erfahrung des Youtube-Profis Andreas Graap, merkwürdiger Weise sehr zurückhaltend, entsprechende Videos für ihre Produkte ins Netz zu stellen. Und wenn Service-Abteilungen nicht in der Lage sind, auf die Netzwerkeffekte bei der Kundenbetreuung zu setzen, dann macht es eben Google mit dem Dienst Helpouts. Das geht vom Geigen-Unterricht bis zum Koch-Kurs – natürlich über Video-Chats.

Ausführlich bei Hannes Schleeh nachzulesen und Grund für den Titel meines Blog-Beitrages, den ich als Session-Thema auf dem StreamCamp in Köln vorschlagen werde.


Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf Ich sag mal – Nachrichten zu Technik, Informationstechnologie, Telekommunikation, Künstliche Intelligenz, Management, Umwelt und Internet.

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