Deutschland ohne Netzkompetenz

von Gunnar Sohn
17. Oktober 2014
Deutschland ohne Netzkompetenz

Lanier und das Biedermeier des 21. Jahrhunderts

Wenn über die Digitalisierung debattiert wird, egal ob es sich um Kultur, Medien, Dienstleistungen oder Industrie dreht, wirkt Deutschland als „Biedermeier“ des 21. Jahrhunderts. Bitkom-Vizepräsident Achim Berg gewinnt gar den Eindruck, dass wir uns eher darauf konzentrieren, Innovationen zu verhindern, statt intelligente Lösungen zu fördern.

„Neben Innovationskraft ist Bürokratismus zu einer deutschen Tugend geworden“, schreibt Berg in einem Huffington Post-Beitrag.

Als Beispiel nennt er die juristischen Attacken gegen den umstrittenen Dient Uber. Die Taxibranche sollte sich vom smarten Geschäftsmodell des Rebellen Travis Kalanick inspirieren lassen, satt ihn mit der Regulierungskeule niederzustrecken.

„Wir schneiden uns mit solchen Aktionen nur ins eigene Fleisch und werden währenddessen rechts von den USA überholt und links von China“, meint Berg.

Wo sind die digitalen Fabriken?

Es reiche nicht aus, bei den Exporten gut abzuschneiden. Wir müssten auch Innovations-Weltmeister werden. Etwa beim Bau von digitalen Fabriken. Und da fangen nach Auffassung von Berg die Probleme schon in der Grundschule an. Mehr als 50 Prozent der Bundesbürger mit schulpflichtigen Kindern seien der Meinung, dass die technische Ausstattung an Schulen mit Computern und Internet-Zugängen nur mittelmäßig bis sehr schlecht ist, so das Ergebnis einer Bitkom-Studie.

„Ähnlich sieht es in Unternehmen aus. Wie sollen Innovationen entstehen, wenn dafür nicht die Voraussetzungen geschaffen werden“, fragt sich Berg.

Und das fange beim Unternehmenschef an. Er müsse Innovationen antreiben und dafür die entsprechende Unternehmenskultur schaffen. Innovationen seien Chefsache, meint der Bitkom-Vizepräsident. Aber reicht das aus?

„Entscheidend sind letztlich die ‚Output-Kriterien‘. Hier fallen wir gegen Länder wie die Schweiz, Großbritannien und die Vereinigten Staaten zurück. Wir bringen weniger und schlechtere wissenschaftliche Veröffentlichungen zustande. Unser Markt ist weniger reif, was sich vor allem mit der Marktkapitalisierung und den verfügbaren Investments erklären lässt. Wir verdienen weniger mit Lizenzen und sind in kreativen Berufen schwach auf der Brust“, konstatiert Innovationsberater Jürgen Stäudtner.

Es sei schon erstaunlich, wie lange Informationstechnologien in deutschen Unternehmen nur für interne Prozesse eingesetzt wurden und sehr wenig mit den Produkten zu tun hatten.

„Warum erfinden wir nicht selbst Dienste wie Uber? Da passiert recht wenig im Land der Denker und Ingenieure“, moniert Cridon-Geschäftsführer Stäudtner.

Symptomatisch für die digitale Innovationsträgheit ist die Verleihung des Friedenspreises an Jaron Lanier, bemerkt Nico Lumma in seiner Bild-Kolumne. Da werde ein Microsoft-Mitarbeiter dafür gelobt, dass er Google und Facebook kritisiert.

„Noch Mitte der 90er hat Bill Gates davon geredet, dass niemand das Internet brauche – hier schliesst sich also ein Kreis. Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit kommt in dieser Preisverleihung zum Ausdruck.“

Eine vergleichende Studie habe herausgefunden, dass nur fünf Prozent der Deutschen über gute Internet-Kenntnisse verfügen.

„Immerhin ein Drittel der deutschen Internetnutzer verfügen über mittelmässige Internet-Kenntnisse. Damit landet Deutschland auf Platz 27 von 31 Ländern Europas. Ich finde diese Zahlen schockierend. Wir stehen vor riesigen Herausforderungen, denn unser Leben wird immer mehr vom Internet beeinflusst. Und die große Mehrheit kommt mit dem Internet nicht mal ansatzweise klar“, erläutert Lumma.

Exportstärke überdeckt strukturelle Probleme

Um das zu ändern, reichen die tonangebenden Nerds aus Berlin-Mitte nicht aus. Auch der Verweis auf unsere Exportstärke kann nicht über die strukturellen Probleme in Deutschland hinwegtäuschen.

So arbeiten nach den jüngsten Erhebungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) im verarbeitenden Gewerbe immer weniger Menschen unmittelbar in der Fertigung. In den Jahren 2007 bis 2011 ist die Zahl der Industriebeschäftigten, die unmittelbar in der Produktion tätig sind, um 2,5 Prozent gesunken. Dies geht teilweise auf eine steigende Arbeitsproduktivität, teilweise auf den verstärkten Bezug von Vorleistungen, die bisher selbst erstellt wurden, und teilweise auf den verstärkten Einsatz von Leiharbeit zurück.

Die Zahl der Personen, die in Industrieunternehmen Dienste erbringen, ist dagegen in diesem Zeitraum um 2,5 Prozent gestiegen. Bei den produktionsorientierten höherwertigen Dienstleistungen ist die Beschäftigung sogar um 4,5 Prozent gestiegen, und hierunter in Forschung und Entwicklung um 5,8 Prozent sowie bei Leitung und organisatorischen Tätigkeiten um 16,0 Prozent.

Deutschland seit den 1960er Jahren keine Industrienation mehr

Dieser Strukturwandel ist nach Erkenntnissen des DIW in allen Industriebranchen zu beobachten, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. In den international ausgerichteten Branchen mit einer überdurchschnittlichen Exportquote von mehr als 50 Prozent – wie der Automobilindustrie, dem Maschinenbau und der chemischen Industrie – wächst die Bedeutung dieser Dienste dynamischer als in eher binnenmarktorientierten Branchen wie der Nahrungs- und Genussmittelindustrie. Durch die zunehmende Digitalisierung werden Routinetätigkeiten an Bedeutung verlieren und anspruchsvolle Tätigkeiten an Bedeutung gewinnen – auch in der Fertigung.

Wo bleiben die Impulse in Wirtschaft und Politik, um uns von der Anachronismen der untergegangenen Industriewirtschaft zu befreien, wie es der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser in seinem Standardwerk “Deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945″ ausdrückt. Wo sind klare Konzepte für einen institutionellen Rahmen zu erkennen, um uns auf die Bedürfnisse der nachindustriellen Ära auszurichten?

Weder die wirtschaftlichen Eliten noch die öffentliche Meinung waren und sind sich der Realität bewusst, “dass schon Anfang der sechziger Jahre selbst bei stark rohstofforientierten Produzenten, wie der deutschen Großchemie, bis zu zwei Drittel der Wertschöpfung auf der Fähigkeit zur Anwendung von wissenschaftlich basierter Stoffumwandlungsprozesse beruhte”, schreibt Abelshauser in der erweiterten Auflage seines Opus.

Seit den neunziger Jahren sind mehr als 75 Prozent der Erwerbstätigen und ein ebenso hoher Prozentsatz der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung durch immaterielle und nachindustrielle Produktion entstanden. Die innere Uhr der politischen Entscheider ist immer noch auf die industrielle Produktion gepolt. Man merkt es an der wenig ambitionierten Digitalen Agenda der Bundesregierung, man erkennt es an den lausigen Akzenten, die in der Bildungspolitik gesetzt werden und man hört es bei den Sonntagsreden der Politiker, wenn es um Firmenansiedlungen geht. Es gibt keine Konzeption für eine vernetzte Ökonomie jenseits der industriellen Massenfertigung aus den Zeiten des Fordismus.

Wie können wir das ändern? Eure Meinung ist gefragt. Gerne auch mit Live-Interview via Hangout on Air.

Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf: www.ne-na.de – Nachrichten im Netz-Dschungel.

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