Speech Analytics im Callcenter

von Team Redaktion
23. September 2010
Brian Solis im Smarter Service Talk mit Bernhard Steimel (Audio)

Smarter Service Talk mit Gerald Schreiber, Geschäftsführender Gesellschafter, defacto.call center & dialog

VOICE Community: Es heißt: „Markets are conversations“. Was können Ihre Kunden und Ihr Unternehmen aus den Gesprächen lernen, die Ihre Mitarbeiter tagtäglich führen?

Gerald Schreiber: Wir lernen, was der Kunde wirklich will. Die Schwierigkeit ist lediglich, die Daten so zu sammeln und aufzubereiten, dass man sie gezielt auswerten kann.
Unsere Mitarbeiter sitzen am Telefon, hören alles, was der Kunde sagt, nehmen das auch auf, beantworten seine Fragen, aber das Konzept dahinter, nämlich: Was für Folgerungen schließen wir daraus und was für Maßnahmen ergreifen wir – daran müssen wir arbeiten. Und dafür gilt es, die Daten zu ordnen und aufzubereiten.

VOICE Community: Wie werden bis dato Gesprächsinhalte ausgewertet und wo drückt der Schuh dabei?

Gerald Schreiber: Über Jahre hinweg wurde in den Callcentern Qualitätsmanagement betrieben. Die Callcenter haben sich dabei vordergründig damit beschäftigt, die Qualität der Agenten zu verbessern: Man hat ihre Rhetorik geschult, ihnen beigebracht, wie sie sich freundlich verhalten, wie sie emotional etwas rüberbringen und v.a. – darauf haben sich viele sehr stark konzentriert – welche fachlichen Inhalte es wie zu besprechen gilt. Das alles ist kontrolliert und gemessen worden. Dafür hat man Coaches und verschiedenste Technologien eingesetzt.
Aber all diese Maßnahmen bislang waren stark auf das Qualitätsmanagement aus interner Sicht gerichtet. Und zu den Kunden am Telefon hat man gesagt: „Wir würden gern vereinzelt Gespräche aufzeichnen, damit wir besser werden.“
Jetzt drehen wir den Spieß mal um – und das wäre sicher ihre nächste Frage: Wie sieht die Zukunft aus?
Wenn wir den Kunden heute sagen würden: „Lieber Kunde, wir möchten das Gespräch aufzeichnen, damit Sie einen Nachweis des Gesagten haben.“, dann hat plötzlich der Kunde einen Vorteil, obwohl wir das Gleiche machen – nämlich das Gespräch aufzeichnen. Gehen wir mal davon aus, die Kunden spielen da mit, dann können wir Gespräche – dank neuer Technologien – ganz anders auswerten.
Der Callcenter-Leiter steht zwar immer noch unter Druck und hört: „Die AHT (average handling time) ist zu lang.“, „Die Kunden kündigen, wenn sie bei euch im Callcenter waren.“, „Die Servicelevel erreicht ihr nicht.“, „Ihr habt zu wenig Leute – die Spitzen könnt ihr nicht abfangen.“, „Das Servicecenter ist zu teuer!“ oder „Ihr könnt mit Mehrfachkontakten nicht umgehen.“. Aber analysiert man jetzt die Gespräche genauer, erkennt man, warum beispielsweise der Servicelevel nicht erreicht wird: Da gibt es z.B. Maßnahmen aus der Marketing-Abteilung, über die man das Servicecenter vorher nicht informiert hat. Das heißt, es gehen z.B. plötzlich 50 oder 100 Tausend Mailings raus, auf die die Kunden – auch im Callcenter – reagieren.
Dank Speech Analytics können wir so etwas erkennen.
Wir haben in unserem Tool spasseshalber einmal nach „Bla, bla, bla.“ gesucht und stellten fest, es gibt über 3000 Stellen, an denen Kunden das sagen – und zwar lesen sie uns dort unsere eigenen Briefe vor: „Ja, ich habe da ein Schreiben bekommen, warten Sie mal, ich habe das gerade vor mir: Sehr geehrter Herr Schreiber, bla, bla, bla, ach ja, da steht’s …“ – und dann lesen sie uns eine Textpassage vor und sagen: „Und das verstehe ich nicht.“
Hier liegt der Fehler nicht im Callcenter, weil wir nicht freundlich genug sind oder dergleichen, sondern hier hat der Briefverantwortliche schlicht und einfach einen Text geschrieben, den der Kunde nicht versteht. Und das zwingt ihn dazu, im Callcenter anzurufen.
Heute können wir also derartige Erkenntnisse aus den Gesprächen im Callcenter gewinnen und wir können damit den Prozess verändern helfen. Wir können sagen: „Diese Gespräche können wir alle vermeiden, indem wir den Kunden einfach Briefe schicken, die sie verstehen.

VOICE Community: Welchen Nutzen können Sprachaufzeichnungssysteme mit intelligenten Auswertungsmöglichkeiten schaffen?

Gerald Schreiber: Schon vor Jahren hat man das Keyword-Spotting erfunden, mit dem man in aufgezeichneten Gesprächen z.B. nach ‚Rechnung‘ suchen und sich dann all die Gespräche, in denen Kunden irgendetwas zu ‚Rechnung‘ wissen wollten, anzeigen lassen konnte. Bei einem Callcenter mit ca. 45.000 Anrufen am Tag lassen sich dann sicher 5000 Anrufe finden, in denen der Kunde irgendetwas mit ‚Rechnung‘ sagt. Aber was macht man mit diesen 5000 Gesprächen? Wenn ich mir die alle anhören muss, um mehr zu erfahren, stehe ich wieder vor einem Riesenproblem.

VOICE Community: Man könnte eine Stichprobe ziehen.

Gerald Schreiber: Ja, das macht man auch. Man zieht eine 1 Prozent-Stichprobe und sagt dann: „Jetzt weiß ich, wie es läuft.“ Das ist leider falsch. Die Stichprobe ist schlicht zu klein. So kriegt man das meiste einfach nicht mit.
Hinter dem heutigen Speech Analytics steckt zwar auch Keyword-Spotting, aber es ist eben noch eine weiterreichende Sprachanalyse dabei: Die Telefonate werden sortiert nach den Worten, die in der Nähe der gesuchten Keywords immer wieder mit vorkommen. Ein Beispiel: Mit Speech-Analytics finde ich in den 5000 Rechnungsgesprächen mit Speech Analytics Anrufe mit „zu hohe Rechnung“, „korrigierte Rechnung“ oder „Rechnung angemahnt“. Wenn ich nur das weiß, ahne ich schon, worum es in diesem Telefonat gegangen ist – und das kann ein Computer auch.
Die Datenbank, die dahinter liegt, bereitet die 5000 Rechnungsgespräche in Form eines Baumes auf: Kunden, die die Rechnung angemahnt haben, Kunden, die die Rechnung nicht bezahlen wollen und Kunden, die die Rechnung nicht verstanden haben. Und das ganze, ohne dass ein Mensch noch einmal in das Gespräch reinhören muss.
Mir liegen dann drei Verzweigungen vor und ich kann entscheiden, um welchen ich mich als erstes kümmere. Und von da aus kann ich noch tiefer gehen und ggf. in zwei, drei Gespräche tatsächlich reinhören. Aber die bekomme ich vorsortiert und kann sehr viel genauer vorgehen.
Und ich erhalte eine exakte Stückzahl. Bei dem schon erwähnten bla,bla, bla- Beispiel habe ich damit eine konkrete Handhabe: Ich kann dem Marketing genau mitteilen, in 3202 Gesprächen haben die Kunden „bla, bla, bla“ gesagt und wir haben eine Stichprobe von 30 Gesprächen daraus genommen und siehe da, es sind alles Gespräche, bei denen uns der Kunde unseren eigenen Brief vorliest.

VOICE Community: Man versucht also, Anrufgründe dahingehend zu analysieren, welche Probleme wirklich dahinter stecken – ein missverständlicher Text oder ein schlechtes Produkt beispielsweise – und man versucht, diese Mängel abzustellen. Sehen sie darin dann den Hauptnutzen solcher Systeme?

Gerald Schreiber: Darin sehe ich den Hauptnutzen – nämlich Prozesse zu verändern! Wenn ich 4.500 Gespräche habe, in denen Kunden sagen: „Ich komme auf Ihrer Internetseite einfach nicht klar.“ Dann ist sicher: Wir müssen auf der Internetseite etwas ändern.
Ich will aber in Zukunft nicht alle Calls vermeiden – das wäre dann ähnlich wie bei der Sparkasse, bei der der Berater fast gänzlich abgeschafft und der Kunde dazu veranlasst wurde, alles am Automaten abzuwickeln. Das fanden alle Banken am Anfang wunderschön und auch die Kunden haben sich daran gewöhnt. Doch dann saßen plötzlich im ersten Stock die Berater und haben sich gefragt, wo eigentlich die Kunden sind, denen sie ihre Kredite verkaufen wollten. Die aber stehen am Automaten oder erledigen ihre Bankgeschäfte online und die Bankmitarbeiter sehen sie überhaupt nicht mehr.
Dieses Problem könnten wir in Unternehmen, die Callcenter betreiben, auch bekommen, dass die Inbound-Anrufe völlig ausbleiben und wir auch kein Cross- und Upselling mehr hätten.
Es wäre also zu kurz gedacht, zu sagen: „Wir wollen jetzt nur noch Calls vermeiden.“ Dann kommen nämlich auch die Kunden nicht mehr auf uns zu. Wir müssen also andere Anlässe schaffen, um sie einzuladen, uns anzurufen.
Wenn ich z.B. Beschwerden auswerte und erhalte 4.690 Beschwerden aus 68.000 analysierten Anrufen, sind das ganze sieben Prozent. Und wenn ich sieben Prozent Beschwerden habe, dann habe ich schon den Auftrage, dass zu reduzieren. Und wenn ich die Gespräche anhöre und da Formulierungen wie „kann nicht sein“, „gestern schon gesagt“, „Ihren Vorgesetzten“, „nicht mein Problem“ und dergleichen auftauchen, dann kann ich in diese Gespräche tiefer einsteigen und herausfinden, wo klemmt’s wirklich: Hat uns der Kunde im Erstanruf vielleicht nicht verstanden und wir müssen am Inhalt des Erstanrufs arbeiten. Oder schicken wir ihm komische Botschaften, die er nicht versteht.

VOICE Community: Welche Chancen sehen Sie den für die betriebsinterne Marktforschung – welche zusätzlichen Möglichkeiten ergeben sich durch diese Aufzeichnungs- und Auswertungssyteme?

Gerald Schreiber: Erstens brauchen wir keine Marktforschung mehr. Wir müssen ja nur noch zuhören, was uns die Kunden sagen. Wir brauchen keinen, der hinterher die Kunden anruft, und sie explizit befragt. Das sagen sie uns ja schon alles. Dafür müssen nur die vorhandenen Live-Gespräche ausgewertet werden.
Und welche Erkenntnisse gewinnen wir? Ganz einfach: Wir erfahren z.B., welches Image wir bei unseren Kunden haben, welche Anrufgründe sie treiben oder was die Ursachen für Beschwerden sind. Damit können wir die Kundenzufriedenheit erhöhen lernen.
Wir können die Ursachen von langen Calls erkennen. Analysiert man beispielsweise die Beschwerden und davon die längsten Calls, kann man erfahren: Was veranlasst Kunden, 20 Minuten ihrer eigene Zeit aufzuwenden, um eine Beschwerde loszuwerden. Und erkennen wir die Ursachen, können wir die Kundenzufriedenheit erhöhen.
Wir können uns Wiederanrufgründe anschauen: Warum müssen Kunden zweimal anrufen? Wortkonstruktionen wie „gestern schon“, „immer noch nicht“, „ihre Kollegin“ usw. liefern die Wiederholungsanrufe. In denen können wir erforschen, was wir im Erstanruf vergessen haben, dem Kunden mitzuteilen.

Wir können typische Probleme des Webauftritts erkennen und wir können so den Selfservice verbessern lernen.
Wir können nach Verkaufsargumenten suchen: Was ist bei den Kunden gut oder schlecht angekommen. Und wir können dadurch die Verkäufe erhöhen.
Wir können die Kündigungsgründe detailliert ergründen. „Ich kündige, weil ich im Servicecenter nie durchkomme.“ – Ok, da müssen wir am Servicelevel arbeiten. „Ich kündige, weil sie mir dauernd unverschämte Briefe schreiben.“, „Ich kündige, weil ich ihre Botschaften nicht verstehe.“ oder „Ich kündige, weil mir ihr Produkt zu teuer ist.“
Und wir können ineffiziente Prozesse und Prozessbrüche erkennen und damit gezielt Geschäftsprozesse verbessern.
Also das ist eine ganze Liste von Chancen – und wir brauchen dafür nicht die Marktforschung, sondern wir analysieren einfach die Live-Calls.

VOICE Community: Setzen Sie selbst derartige Systeme schon wirklich ein oder befindet sich das ganze noch im Pilotbetrieb?

Gerald Schreiber: Wir haben einen Piloten mit dieser Technologie, den wir seit einem halben Jahr begleiten. Und ich war zwischenzeitlich bei 30 Unternehmen, die sehr an dem Einsatz dieser Technologie interessiert sind. Aber das System ist neu und wir können es nicht einfach so out-of-the-box irgendwo anklemmen und wir brauchen vor allem die Einwilligung des Kunden zur Aufzeichnung des Anrufs.
Und da komme ich zurück auf den Anfang unseres Gesprächs: Wenn wir lernen unseren Kunden zu erklären, welchen Vorteil sie selber haben, wenn wir Gespräche mitschneiden, dann gelingt auch das.

VOICE Community: Sie fordern ja eine gesetzliche Aufzeichnungspflicht für Anrufe, was würde das bringen und wie könnte man das umsetzen?

Gerald Schreiber: Eine gesetzliche Aufzeichnungspflicht könnte zunächst auch eine gesetzliche Kann-Regel sein. Das heißt, wenn der Gesetzgeber einverstanden wäre, dass wir Sprachaufzeichnungen als Nachweis verwenden, dann können wir Gespräche mitschneiden und dem Kunden den Vorteil bieten, dass auch er selbst das Gespräch noch einmal anhören kann. So haben beide – Kunde und Callcenter – die Möglichkeit, das Gespräch noch einmal nachzuvollziehen, wenn es Ärger gibt.
Was wir bei der Aufzeichnungspflicht erreichen würden – und insofern war meine erste Forderung schön härter – wenn alle Unternehmen Sprachaufzeichnungen verpflichtend machen müssten, dann könnten wir die schwarzen Schafe sofort an die Wand nageln. Denn auch diese Gespräche wären ja dann nachweisbar.
Das ist ein weiter Weg. Ein erster Schritt wäre diese Kann-Regelung – nämlich dass jedes Unternehmen die Erlaubnis hat, mit dem Kunden zu vereinbaren, solche Gespräche aufzuzeichnen, aber eben um sie dann auch als Nachweis herzunehmen.
Der derzeitige Datenschutz sieht da ganz anderes vor: Man will zukünftig auch das Mithören von Gesprächen rechtlich verbieten.

VOICE Community: Herr Schreiber, vielen Dank für das Gespräch.


Gerald Schreiber
Geschäftsführender Gesellschafter, defacto.call center & dialog

Gerald Schreiber, Jahrgang 1961, gründete 1989 als geschäftsführender Gesellschafter die defacto. Der Marketing-Experte baute das Unternehmen mit den Kernkompetenzen Direktmarketing und Call Center an den Standorten Erlangen, Nürnberg, Amberg und Istanbul auf. Der Slogan „Wertvolle Dialoge für glücklichere Kunden“ steht repräsentativ für die werteorientierte und auf Qualität ausgerichtete Unternehmensführung Schreibers. Das 2003 gegründete hausinterne Weiterbildungsinstitut defacto.akademie, dessen Programm mittlerweile weit über 100 Kurse umfasst, unterstreicht die Philosophie der „Wertschöpfung durch Wertschätzung“ des Firmeninhabers. Schreiber engagiert sich seit Jahren in verschiedenen Verbänden, wie aktuell dem CallCenterForum Deutschland und dem regionalen CQN Customer Quality Network Nürnberg, das er mitbegründete, und dem DDV, wo er drei Jahre Vorsitzender des Councils Telemedien war.

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