Gaming als Kulturfaktor

von Gunnar Sohn
23. Mai 2013

Warum das bildungsbürgerliche Gejammer über Computerspiele falsch ist

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Die kulturpessimistischen Diskurse über Computerspiele verlaufen in Deutschland nach dem gleichen Muster. „Die“ Jugendlichen oder „die“ Kinder werden durch Gaming süchtig, träge, antriebslos, vereinsamen und sind potentielle Amokläufer. Entsprechend kritisch wird auch die Gamification gesehen. In bildungsbürgerlichen Kreisen wird gerne der Gegensatz von Spiel und Ernst kultiviert. Viele Jahre wurde das Ende der Spaßgesellschaft proklamiert und vor dem Niedergang der Hochkultur gewarnt. Dabei ist die Gaming-Szene, sowohl Entwickler als auch Spieler, längst Teil der Alltagskultur – auch wenn das von den Gaming-macht-süchtig-und-deformiert-das-Hirn-Spitzers dieser Welt mit hysterischen Gesängen bekämpft wird.

Gegensatz von Spielen ist Depression

Diese Abgrenzung ist albern und falsch, meint Soziopod-Blogger Patrick Breitenbach: „Spielen ist immer Arbeit und das in jeder Form – körperlich und geistig. Es geht um Fleiß, um Teamwork, um strategische Denkarbeit, entdeckerische Arbeit und kreative Arbeit.“ Das Gegenteil von Spielen sei eher Depression. Um sich aus der Ohnmacht und dem Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber Politik und Wirtschaft zu befreien, bietet die Gamification das nötige Rüstzeug. Was zeichnet analoge und digitale Spiele aus? „Freiwilligkeit, die sich von den Zwängen der Arbeitswelt und den nicht vorhandenen politischen Beteiligungsmöglichkeiten deutlich unterscheidet. Spielen ist nicht sinnlos. Unsere angeblich ernsthafte Realität ist es“, so Breitenbach.

Warum das „wahre“ Leben enttäuscht

In der von triefendem Kulturpessimismus geprägten Debatte der liebwertesten Spitzer-Gichtlinge über Computerspiele sollte man sich eher die Frage stellen, warum Spiele mittlerweile die ergiebigste Quelle für positive Beschäftigungen sind und das „wahre“ Leben so wenig zu bieten hat. Warum kommen Computerspieler sehr schnell in den von dem Psychologen Mihály Csíkszentmihályi erforschten Flow-Zustand? Flow bezeichnet das völlige Aufgehen des Handelnden in seiner Aktivität. Schulen, Büros, Fabriken und das Alltagsleben sind derzeitig unfähig, uns mit Flow zu versorgen.

Spiele bringen uns bei, frei wählbare, anspruchsvolle Formen der Arbeit zu schaffen, die uns stets das Beste abverlangen: „Wir könnten akute Probleme wie Depression, Hilflosigkeit, soziale Entfremdung und das Gefühl von Unzulänglichkeit wirksam bekämpfen, wenn wir spielmechanisch geprägte Arbeit in den Alltag einbänden“, schreibt Jane McGonigal in ihrem Buch „Reality Is Broken. Why Games Make Us Better und How They Can Change Change The World“.

Level statt Zensuren

Statt Zensuren in Schulen und Universitäten zu vergeben, könnten wir Spiel-Level vorgeben. Es geht um Missionen und nicht um Klausuren, es geht um Anreize und nicht um Bestrafung. Positiver Stress, der beim Erreichen von Zielen in Computerspielen zur Normalität gehört, wirkt sich auch auf den Lernerfolg aus. So wird am Quest to Learn-College in New York City mit Geheim-Missionen, Bosslevels, Erfahrungsaustausch, Spezialagenten, Punkten und Stufen operiert und auf klassische Noten verzichtet: „Eine bahnbrechende Fusion von spielerischem Handeln und öffentlichem Schulsystem“, so McGonigal. Intellektuelle Fähigkeiten verwandeln sich in Superkräfte und epische Herausforderungen können nur mit einer Lernkultur gemeistert werden, die Fehler als Antriebsfeder werten und nicht als Schwäche.

Die positive Utopie des Spiels

Nicht das Spiel und der Homo Ludens sind bedrohlich, sagt Patrick Breitenbach, sondern unsere kaputte, graue und langweilige Realität. Deshalb sollte stärker über den Transfer der Gaming-Kultur in den Alltag nachgedacht werden. Wie kann man das Phänomen der Beteiligung, der Begeisterung und des Engagements auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft übertragen? Das ist eine positive Utopie, so Breitenbach: „Beim Spielen geht es auch um Macht. Aber in einer völlig anderen Ausrichtung. Nicht Unterdrückung, Unterordnung, Gehorsam und Hierarchien, sondern Gestaltungsmacht, Gestaltungsfreiheit, Selbstorganisation und Kooperation.“

Und wenn die Spielregeln langweilen und Software-Updates als reine Geldschneiderei von der Game-Community entlarvt werden, stimmen wir radikal mit den Füßen ab und gehen zum nächsten Spiel, wie es mein Sohn Constantin in unserem Interviewformat „Sohn fragt Sohn“ zum Ausdruck brachte. Auf der Gamescom in Köln setzen wir diesen Diskurs mit Hangout-Liveberichten fort. Ausführlich nachzulesen in der The European-Kolumne:

Spielende Veränderung – Gaming statt Hierarchien: Wie Computerspiele das politische System verändern könnten.


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