Mehr Nerd-Geist für die Wirtschaft

von Gunnar Sohn
7. August 2015
http://nexteconomy.me/2015/07/31/mehr-nerd-geist-fuer-die-wirtschaft-matchen-moderieren-und-managen-auf-der-next-economy-open-in-bonn-neo15/

Matchen, Moderieren und Managen auf der Next Economy Open in Bonn

Wer sich mit der digitalen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft beschäftigt, sollte nicht nur Internet-Werkzeuge im Blick haben, sondern muss die Veränderungen betrachten, die sich aus der Logik des Netzes ableiten:

„Wirtschaft, die im Internet stattfindet, kann kaum mehr sinnvoll abgegrenzt werden von solcher, die nicht im Internet stattfindet“, so die Einschätzung von Christoph Kappes.

Digitalisierung der Landwirtschaft, Robotereinsatz in der Altenpflege oder Online-Marktplätze für Handwerker sind nur einige Phänomene, die auch traditionelle Branchen auf den Kopf stellen.

„Wenn heute jeder mit jedem online kommuniziert, Geschäfte zunehmend nicht mehr im sauerländischen Konferenzraum, sondern weltweit im Browser getätigt werden, Arbeitsplätze nach digitaler Sexyness ausgewählt werden, das Netzwissen unseren Alltag und unsere Kultur prägt, stellt sich die Frage, wie die deutschen Traditionsunternehmen in Zukunft bestehen sollen“, fragt sich der Mittelstandsexperte Marco Petracca.

Besonders in diesen Unternehmen wird nach Ansicht von Professor Peter von Mitschke-Collande unterschätzt, dass die Digitalisierung nur zu 20 Prozent eine Frage der Technologie ist. 80 Prozent der Aufgaben liegen im Management und im Verhalten der vernetzten Privat- und Geschäftskunden. Es reicht dabei nicht aus, ein wenig mehr IT und Social Web einzusetzen, um die eigene Organisation zukunftsfähig zu machen.

Eine Frage an die Hidden Champions des Mittelstandes

Maschinenbauer, Logistiker, Robotik-Spezialisten und Zulieferer sollten sich deshalb existentiell wichtige Frage stellen, die Professor Tobias Kollmann beim Netzökonomie-Campus in die Diskussion warf:

„Welches Startup mit einer tollen innovativen Idee aus dem Silicon Valley würde mit viel Geld Ihre Branche kaputt machen?“

Dummerweise ist das Digitale vielfach nicht Teil der Erlebniswelt von Führungskräften, bestätigt Mind Business-Berater Bernhard Steimel beim netzökonomischen Diskurs in Hannover:

„Dadurch schneiden sie unheimlich viel nicht mit. Sie delegieren solche Angelegenheiten lieber an irgendwelche Abteilungen.“ Steimel spricht gar vom asymmetrischen Krieg, den die Silicon Valley-Partisanen anzetteln. Wer als etablierte Kraft nur auf Google, Facebook oder Apple starrt, werde von anderen Neulingen überrollt, sagt der Smart Service-Experte.

Der Springer-Verlag macht es schon richtig, fast die komplette Führungsriege als Hospitanten ins Silicon Valley pilgern zu lassen. Hier bekomme man nach Ansicht von Steimel die überfälligen Erweckungserlebnisse, um böse Überraschungen für das eigene Geschäftsmodell zu antizipieren. Nur über eigene Aktivitäten kann man den blinden Fleck bei der Digitalisierung korrigieren.

Passives Zuschauen oder die Delegation der digitalen Hausaufgaben sind der falsche Weg: Auch der Ruf nach dem Staat oder die Einführung von Schutzgesetzen, gerichtlichen Verboten und Reglementierungen helfen nicht weiter:

„Das ist eine wirtschaftliche Aufgabe, die eine Plattform braucht“, fordert Kollmann.

So genüge es für die Heizungsindustrie nicht, Daten digital auslesen zu können. Über die Verbrauchswerte lasse sich eine neue Energiehandels-Plattform zu den Heizungselementen etablieren, um zu entscheiden, über welche Energieträger das abgerechnet wird. Wer das in die Hand bekommt, dominiert den kompletten Markt.

Ein Problem der mangelhaften digitalen Kompetenz der Wirtschaft sieht Kollmann in Forschung und Lehre.

„Wir bilden für die digitale Wirtschaft nicht aus. Das findet in den Lehrplänen einfach nicht statt.“

Hier verortet der Vorsitzende des Beirats „Junge Digitale Wirtschaft” des Bundeswirtschaftsministeriums ein großes Handicap, weil dadurch nicht nur die Fachkräfte für die digitale Transformation in Mittelstand und Konzernen fehlen, sondern auch zu wenig Gründer aus den Hochschulsystemen herauskommen. Hier müsste dringend eine Basis für die nächste Gründergeneration gebildet werden.

„Wir müssen diese Themen in die Bachelor-Studiengänge reinbekommen”, so das Plädoyer von Kollmann.

Diese Strukturen für die Aus- und Weiterbildung fehlen auch in Berufsschulen und IHK-Lehrgängen. „Das muss ganz schnell auf die Agenda kommen, um eine Professionalisierung in den Unternehmen voranzutreiben“, betont Kommunikationsberater Frank Michna. Mehr denn je braucht Deutschland für den disruptiven Wandel von Ökonomie und Gesellschaft den Dialog zwischen Mittelstand und Netzszene. Davon sind wir allerdings weit entfernt. Firmeninhaber, Techniker und Ingenieure haben eine eher verschlossene Mentalität und sehnen sich nach Stabilität, die man in der Provinz vorfindet. Die Kommunikation endet häufig am Ortsausgangsschild. Das steht nach Auffassung von Petracca im krassen Widerspruch zu dem, was wir im Netz machen.

„Wir reden über Dialog und den Austausch von Wissen. Viele Unternehmen tun sich hingegen schwer, das zu kommunizieren, was sie ausmacht. Das ist kulturell tief verankert. Mittelständler sind sehr stark von ihrer Leistung geprägt, von Innovationen und Patenten. Das soll aber keiner wissen. Wir sind angetrieben von Denkansätzen wie Sharing, Share Knowledge, Big Data und einer Kultur der Beteiligung. Da ist der Kollisionskurs vorprogrammiert.“

Betriebsgeheimnis soll Betriebsgeheimnis bleiben

„Bei uns ist jede Information auch eine Transaktion“, erklärt Petracca.

Was auf Konferenzen wie der re:publica abläuft, sei hochgradig spannend, hat aber nur wenig mit dem Erfahrungshorizont der Hidden Champions zu tun. Was wir offerieren, passe nicht zu den Anforderungen der Unternehmen. Der Austausch wäre jedoch wichtig. Spätestens wenn die Betriebe auf Wettbewerbsprobleme stoßen, die die digitale Sphäre auslöst. Wenn etwa Kunden der Hidden Champions Anlagen direkt über chinesische Absatzmärkte oder indirekt über eine Plattform wie Alibaba ordern und das deutsche Unternehmen mit dem dreifachen Preis auf der Strecke bleibt, wenn sie sich nicht zuvor auf diese neuen Herausforderungen vorbereitet haben.

Maschinenbauer, Schraubenhersteller und auch eine Vorzeigefirma wie Würth glauben nach wie vor, dass ihre Geschäftsmodelle den persönlichen Austausch bedingen. Ihre Leistungen würden online nicht funktionieren, lautet ein typischer und reflexartiger Satz von Industrievertretern.

„Das kollidiert doch mit der Welt, in der ich die Netflix-Aufladekarte mittlerweile an der Penny-Kasse bekomme oder meine Schrauben günstiger bei Amazon bestellen kann“, sagt Petracca.

Diese Welt ist dem Mittelstand fremd. Genauso fremd sind der Netzszene praxisrelevante Lösungsvorschläge, um Änderungen zu bewirken. Der blinde Fleck in der Digitalisierung liegt also nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch an der Mangelhaftigkeit der netzökonomischen Kompetenz von digitalen Diskursen. Wir sollten also weniger über die digitalen Vorzeigeprojekte von Red Bull, Coca Cola & Co. sprechen oder stupides Online-Marketing-Blabla kommunizieren, sondern über handfeste digitale Strategien für Firmen wie EDAG Engineering in Fulda nachdenken:

„Was wir jetzt brauchen, ist Punk und Rock ‘n’ Roll für einen digitalen Gründergeist und nicht vertrocknete Lehrbücher von Meffert und Co.”

In Deutschland pflege man eine merkwürdige Definition von Visionen. Was in der Netzwelt und eben auch im Silicon Valley gepflegt werde, seien Visionen gepaart mit Leidenschaft. Fragt man industriell geprägte Unternehmen nach Visionen, kommt als Antwort: „20 Prozent Wachstum in zwei Jahren“.

Erzählstoff für die Next Economy

„So kann man Gesellschaft und Wirtschaft nicht verändern. Wir denken ausschließlich in der Kategorie der Profitoptimierung. Es fehlt die übergeordnete Vision“, kritisiert Petracca.

Storymaker, die uns die Bits und Bytes nicht mit dem Charme von Rechenschiebern vermitteln, findet man kaum in Deutschland. Es sind die seltenen Gastauftritte von den Tech-Bombenlegern aus dem Silicon Valley, die uns den Erzählstoff für die Next Economy bieten. Dazu zählt der Periscope-Mitgründer Kayvon Beykpour, dem in Hamburg die mediale Schickeria zu Füßen lag. TV-Journalist und Blogger Richard Gutjahr überlegte gar einen Moment im Livestreaming-Interview mit Beykpour, ob er nicht auf die Seite des Start-up-Unternehmens wechseln sollte, da selbst im Journalismus die Impulse nicht mehr von Häusern wie Springer oder Burda kommen, sondern von den Programmierern in Kalifornien.

Die kalifornischen Nerds im Tal der radikalen Innovation dringen mit ihren digitalen Geschäftsmodellen und Software-Spielereien in nahezu jede Branche ein, schreiben Björn Bloching, Lars Luck und Thomas Ramge in ihrem neuen Buch „Smart Data“, erschienen im Redline Verlag. Während deutsche Führungskräfte in Meetings Worthülsen-Big-Data-Bullshit-Bingo spielen, klinken sich die amerikanischen Angebots-Aggregatoren und Datenauswerter in die Wertschöpfungsketten der klassischen Unternehmen ein und suchen den direkten Kontakt zu Geschäfts- und Privatkunden. Die drei „Smart Data“-Autoren nennen das Plattformisierung und Netzwerkeffekte:

„Der Clou an Plattformen in der digitalen Ökonomie ist: Sie können noch schneller und besser skalieren als Hersteller mit großer Marktmacht in klassischen Wertschöpfungsketten.“

Völlig unterschätzt werde eine neue Bugwelle, die auf kleine und große Unternehmen zukommt. TED-Talkerin Rachel Botsman nennt das „Collaborative Consumpition“:

„In Management-Etagen wird das Phänomen nach wie vor als Erscheinung mit begrenzter Branchen-Reichweite belächelt, der eigentliche Hebel dahinter wird aber nicht gesehen: Intelligente Kollektive drängen die Mittelsmänner aus der Wertschöpfung heraus – oder rollen wie im Beispiel Uber und Lyft gleich die ganze Branche auf“, erklären Bloching, Luck und Ramge.

Mit Konsens-Mittelmaßkultur, die hierzulande dominiert, wird man nicht die richtigen Antworten finden. Die drei Buchautoren erleben in ihren Gesprächen lähmende Orientierungslosigkeit bei den großen Noch-Champions, die nach und nach ihre unternehmerischen Ambitionen zurückschrauben. Das muss sich ändern. Deshalb braucht die etablierte Wirtschaft mehr Nerd-Geist.

Auf der Next Economy Open in Bonn wollen wir diesen Geist vermitteln. Klassik trifft Gründer, Nerds, Hacker, Entwickler und Blogger. Der Ticketverkauf für die #NEO15 am 9. und 10. November geht jetzt los.


Dieser Beitrag ist zuerst erschienen auf Next Economy Open.

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