Digitale Disruption ist nicht für jedes Unternehmen eine Option

von Bernhard Steimel
24. Oktober 2019
Welchen digitalen Berg wollen Sie besteigen? Interview mit Roman Friedrich

– Teil 1 des Smarter Service Interviews mit Roman Friedrich, Partner & Managing Director BCG –

Welchen digitalen Berg wollen Sie besteigen?

Herr Friedrich, mittlerweile liegen ja bereits Erfahrungswerte aus der digitalen Transformation vor. Forsche Köpfe vertreten die steile These, die beste Strategie in der Transformation sei Disruption. Was sagen Sie dazu?

Roman Friedrich: Digitalisierung primär über Disruption zu definieren, ist ein Fehler. Den wenigsten Unternehmen steht das als Strategie-Option zur Verfügung. Die besten Beispiele sind natürlich die disruptiven Fälle wie Airbnb oder Uber, die das Hotel- und Fahrgeschäft revolutioniert haben. Für die meisten Unternehmen, die ihr Geschäftsmodell in der Vergangenheit etabliert und optimiert haben, wird es dieses Potenzial aber nicht geben. Ihre erste Aufgabe ist es, dieses Geschäftsmodell zu digitalisieren. Nicht als Pflicht, sondern als Kür sollte man sich zwar fragen, wer das eigene Geschäft disruptiert und ob man selbst Disruption betreiben kann. Die bessere Strategie zunächst aber ist die Fortführung eines digitalisierten Altmodelles so lange es eben geht.

An welche Branchen denken Sie hierbei?

Das ist in ganz verschiedenen Branchen der Fall. Vielen Großunternehmen fehlt es an der Fähigkeit, das, was sie über Jahrzehnte hinweg optimiert haben, disruptiv zu betrachten. Die Prozesse, die Organisationsstruktur und Bestands-Software die man an IT hat, sind so träge geworden, dass Disruption schwierig ist. Man kann jedoch sehr wohl Disruption betreiben, indem man außerhalb etwas Neues macht. Das Automobilgeschäft ist mein liebstes Beispiel. Wenn man statt Autos die Daten monetarisiert, die das Auto produziert, könnte man auf diese Art und Weise das Produkt Auto komplett disruptiv behandeln.

Ich habe gelernt, dass man ein möglichst konkretes Zielbild braucht und sich überlegen sollte, welchen digitalen Berg man überhaupt besteigen will.

Absolut! Und ich rede immer von drei grundsätzlichen Werttreibern: Digitalisierung kann Ihnen helfen, Ihre Betriebs- und Ablaufkosten zu reduzieren. Das können Sie im bestehenden Geschäftsmodell machen. Jedes nicht-digitale Produkt und jeden analogen Service können Sie durch Digital-Technologien effizienter machen. Dies ist eine zwingende notwendige Aufgabe für jedes Unternehmen, weil eine Effizienzsteigerung grundsätzlich nötig ist. Sie können digitale Technologien einsetzen, um die Kundenzufriedenheit zu verbessern. Hier liegt das primäre Ziel nicht darin, die Kosten zu reduzieren, sondern die Interaktion mit dem Kunden zu verbessern. Drittens können Sie darüber nachdenken, neue digitale Produkte zu entwickeln. Das ist dann der fließende Übergang zu datengetriebenen, disruptiven Geschäftsmodellen.

Ein Unternehmen muss genau überlegen, was es will und welche Fähigkeiten es hat, um welche Wertschöpfungen auf der digitalen Ebene zu erzielen. Für Shareholder wäre es absolut akzeptabel, wenn das Unternehmen zu dem Schluss kommt, es habe nicht die innovativen Kräfte und auch nicht die Kompetenz, Disruption zu betreiben und setze statt dessen die neuen digitalen Technologien dazu ein, um die Kundeninteraktion zu verbessern und die operativen Kosten zu reduzieren. Hierin kann ein riesiger Werthebel liegen und eine Ressourcenverschwendung an digitale Disruption wird vermieden. Sehr wohl gibt es Unternehmen, die darauf angewiesen sind, immer wieder zu hinterfragen, welches Produkt es anbietet. Bestes Beispiel ist Netflix. Der Dienstleister begann mit physischer Distribution von CDs und Videokassetten und entwickelte sich sukzessive weiter. In der DNA von Netflix liegt eine gewisse Disruptionsfähigkeit, die immer weiter genutzt werden sollte.

Zurzeit ist es chic einen CDO ( Chief Digital Officer ) zu inthronisieren. Es wird aber immer auch angemerkt, dass ein Unternehmenschef diesen Veränderungsprozess nicht delegieren darf.

Ich kenne diese Sorge und teile sie. Zugleich halte ich es fast für unerlässlich, dass Unternehmen sich eines CDOs bedienen. Idealerweise ist die digitale Transformation eine Transformation in jedem Geschäftsbereich und jeder Funktion. Der CEO nimmt sich dieser digitalen Transformation an und hat für jeden einzelnen seiner Führungskräfte die entsprechende Aufgabe. Das wäre das Ideal. Wenn ich mir die Realität anschaue, stelle ich fest: Das passiert nicht, weil viele CEOs diese Fähigkeit nicht haben. Sie sind im Business-Sinne zu analogen Zeiten sozialisiert und ihnen fehlen die Visionen.

Bleibe ich dann stehen und sage, es muss aber so sein? Bejammere ich, dass ich diese Fähigkeiten in dem klassischen Management-Team nicht habe? Oder bediene ich mich des CDOs als Change- und Transformations-Vehikel? Das ist mittlerweile nicht für alle, aber für viele Unternehmen meine Empfehlung. Es wäre besser, wenn es der CEO und nicht der CDO machen würde, aber weil das in der Realität oft nicht klappt, sage ich: Bedient euch eines CDO, der schafft sich dann in der Realität auch selbst ab. Wenn die Digitalisierung des Unternehmens stattgefunden hat, ist er überflüssig oder er ist der neue CEO.

In diesem Kontext stelle ich immer wieder fest, dass vielen Unternehmen nicht nur ein Zielbild und diese klare Führerschaft fehlen, sondern auch Steuerungsmechanismen. Digitalisierung findet so oder so statt, es gibt genügend inkrementelle Maßnahmen, aber es gibt keine aktive Steuerung, sondern es findet unter dem Radar statt. Ein Beispiel: Der IT-Leiter eines Landmaschinenherstellers weiß, dass 15 Prozent des Umsatzes über Ersatzteilbestellungen im Onlineshop generiert werden, und sieht noch mehr Chancen, doch dieses Bewusstsein fehlt (noch) dem Unternehmenschef.

Nach fünf Jahren Erfahrung in digitaler Transformation bei großen Unternehmen würde ich fast sagen, dass dieser Aspekt der Steuerung, der Governance und Neubetrachtung des Geschäftes viel wichtiger ist als das Verstehen von digitalen Technologien und wo manuelle Schnittstellen digitalisiert werden können. Es ist zwar nicht immer klug, zu priorisieren, aber wenn Sie mich fragen, welchen Rat ich einem CEO geben würde, auf was er achten soll, würde ich folgendes sagen: Überleg Dir genau, mit welchen KPIs, mit welchen Steuerungsmechanismen, mit welchen Governance-Prinzipien Du Deine digitale Transformation hinbekommst.

Wenn man die Steuerungslogik der Vergangenheit nimmt und die KPIs der Vergangenheit betrachtet, bekommt man eine optimierte Version des Geschäftsmodells der letzten zehn Jahre. Es geht um die Art und Weise, wie der CEO beispielsweise in seinem Management-Team nachfragt, wie die Performance ist. Er darf das nicht genau so wie in den letzten zehn Jahren tun. Will er ein digitales Geschäftsmodell haben, muss er neu steuern und nachfragen, und zwar so, dass das Unternehmen gezwungen ist, eine andere Perspektive einzunehmen. Das ist Steuerung per se. Der CFO hat deswegen eine ganz fundamentale Aufgabe. Wenn er es nicht fertigbringt, sein Reporting so umzustellen, dass er durch die Art und Weise, wie reportet wird, Anreize setzt, dass die Mitarbeiter sozusagen digitale KPIs ins Augenmerk nehmen, dann manifestiert er die Vergangenheit und trägt zu dieser fehlenden Agilität und Trägheit bei, die die meisten Unternehmen haben.

Welches sind in diesem Sinne die neuen KPIs? Wer über Agilität spricht, fragt im Grunde genommen: Bin ich in der Lage, Dinge schnell umzusetzen? Es muss dann anders gemessen werden, Stichwort „Enterprise Backlog“. Dabei handelt es um einen großen Karton mit Aufgaben und Maßnahmen, die es durchzuführen gilt, wobei gemessen wird, wie schnell es gelingt.

Das ist ein entscheidender, aber auch schwieriger Punkt. Wie man misst, lässt sich nicht global für alle Industrien sagen. Es hängt von dem Industriezweig ab und davon, was das Unternehmen erreichen möchte. Ich gebe Beispiele: Man kann Digitalisierung über Customer Centricity definieren, über Kundenorientierung. Das würde bedeuten, dass man Kunden-KPIs betrachten wie den NPS, den Net Promoter Score. Das ist ein gut geeigneter digitaler KPI, und man könnte bei vielen Unternehmen damit anfangen.

Ein anderes Beispiel: Wenn man überzeugt ist, dass man eine stärkere digitale IT-Infrastruktur benötigt, kann man das Maß an Virtualisierung von IT-Strukturen als Maßstab nehmen. Ich habe das bei einem Kunden gemacht: In der Vergangenheit hatten wir die IT als Anteil am Revenue (Umsatz, Ertrag) gemessen und hatten im Ergebnis eine reine Effizienzgröße. Die Konsequenz war, dass wir versucht haben, im bestehenden Rahmen immer weiter zu optimieren. Wir haben das dann geändert und haben die Anzahl an virtualisierten Domänen betrachtet. Wir wussten, dass das der Weg zu einem agileren Unternehmen ist, sozusagen ein Lead-Indikator, um uns in unserer Infrastruktur digitaler zu machen. Das wiederum hatte andere digitale Benefits zur Folge.

Es gibt jedoch auch konkretere Aspekte. Zum Beispiel Agilität. Wie misst man das? Time-to-Market. Häufig ist die Produktentwicklung gehandicapt durch die Legacy-Strukturen auf der IT-Seite. Sie können als Final-KPI Time-to-Market messen und darunter ergeben sich die Lead-KPIs, von denen ich gerade gesprochen habe. Oder die Anzahl manueller Schnittstellen, der Interfaces, die es in einem Unternehmen gibt.

Ich gehe typischerweise so vor, dass ich einen KPI-Baum mache, eine Hierarchie an Mess-Indikatoren auf Corporate-Ebene, und die breche ich dann immer weiter runter, sodass jeder Unternehmensteil seine entsprechenden digitalen KPIs bekommt. Der entscheidende Punkt ist immer gewesen: Sie müssen vom alten Kerngeschäft signifikant abweichen. Sonst ist die Gefahr zu groß, den Status quo zu manifestieren. Mir hat der CFO eines DAX-Unternehmens neulich gesagt: Ich habe immer den gleichen Muskel in meiner Organisation trainiert, indem ich immer die gleichen Fragen gestellt und die gleichen Übungen gegeben habe. Jetzt muss ich bewusst andere Übungen geben, damit ein anderer Muskel trainiert wird und ich die digitalen Ziele erreiche.

Über neue KPIs nachzudenken ist quasi die Pflichtaufgabe für CFO und CEO, damit man neue Muskeln trainiert – ein guter Merksatz.

=> Teil 2 und Teil 3 des Smarter Service Interviews mit Roman Friedrich

1 Kommentar

Jürgen 25. Oktober 2019 - 9:51

Schönes Interview mit hohem praktischen Bezug. Danke Euch beiden.

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