Einstieg in die patientenzentrierte Gesundheitsökonomie

von Bernhard Steimel
9. November 2021

Jeder Akteur und jede Institution im Gesundheitswesen braucht eine digitale Strategie, die auf einem klaren Zielbild für eine patientenzentrierte Medizin beruht. Es ist jedoch riskant, alle Digitalisierungsschritte auf einmal anzugehen. Lösungen wie die Patientenakte, Telemedizin oder Gesundheits-Apps sollten schrittweise entwickelt und eingeführt werden. Die Akteure müssen den richtigen Innovationsmix finden. Eine erfolgreiche Digitalisierung erfordert eine Kombination aus kurzfristigen Maßnahmen und Zukunftsinvestitionen, die nach dem „3-Horizonte-Modell” von McKinsey eingeordnet werden.

Horizont 1: Quick Wins mit schnellen Digitalisierungsmaßnahmen
Horizont 2: Mehr Effizienz mit Telemedizin und Automatisierung
Horizont 3: Mit digitalen Ökosystemen die Patientenreise begleiten

„Die eigentliche Zukunft des Gesundheitswesens liegt in der Verhaltensänderung. Unsere Vision ist es, die Menschen zu ermutigen, Verhaltensweisen zu ändern, die sie dem Risiko einer schweren, aber vermeidbaren Krankheit aussetzen.“

Horizont 1: Quick Wins mit schnellen Digitalisierungsmaßnahmen

In Horizont 1 geht es um kurzfristige Maßnahmen für die nächsten zwölf Monate. Sie reagieren auf Krisen, digitalisieren das bestehende Geschäft und erhöhen seine Profitabilität.

Grundlegende Digitalisierung mit Quickwins

Der wichtigste Schritt bei der Digitalisierung: Sofort anfangen, schnell und konsequent agieren – und zwar auf Basis einer Strategie. Bereits in der Corona-Krise bewährte patientenzentrierte Sofortmaßnahmen sind datenschutzkon­forme Videosprechstunden, etwa mit Cisco WebEx oder Microsoft Teams. Der Vorteil: Patienten können auch ohne ein Konto beim Anbieter teilnehmen.

Sinnvoll ist auch der Einsatz eines Messengers. Viele (nicht nur) jüngere Patienten nutzen Whats­App und wünschen sich, den Hausarzt damit zu erreichen. Leider ist die App aus Datenschutzgrün­den nicht empfehlenswert. Eine bessere Alternative sind Medizin- oder Mitarbeiter-Apps mit einem integrierten Messenger, etwa Staffbase mit Staff­base Chat.

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Das digitale Wartezimmer in den Praxisalltag einführen

Ausgangspunkt der Digitalisierung ist beispielsweise die Einführung eines Patientenportals mit Online-Terminvereinbarung. Dieses kann nach und nach um weitere Prozesse ergänzt werden, wie z.B. die Kommunikation von Terminverschiebungen.

Für das digitale Wartezimmer sollten weitere Vorprozesse digitalisiert werden. Dies betrifft beispielsweise die Begutachtung des Patienten bei der Erstaufnahme in der Klinik oder Praxis. Sinnvoll ist hier ein patientenzentrierter   „Self-Service”, bei dem der Patient wichtige Fragen entweder zu Hause am Computer oder im Vorzimmer der Praxis auf einem Tablet beantworten kann. Dadurch wird die Aufnahme entlastet und alle notwendigen Daten liegen digital vor.

IT-Systeme konsolidieren und Schnittstellen einführen

Die vom Gesetzgeber geplanten Maßnahmen zur Einführung der elektronischen Patientenakte sowie des elektronischen Rezepts und der elektronischen Überweisung stehen kurz vor dem Abschluss. Praxen und Kliniken können diese digitalen Lösungen jedoch nur nutzen, wenn die Anbieter von Praxisverwaltungssoftware entsprechende Konnektoren zur Verfügung stellen. Aus technischer Sicht bietet die aktuelle Situation aber eine große Chance: Kliniken und Praxen können ihre bestehenden IT-Systeme überarbeiten und konsolidieren.

Vielfach ist hier ein Mosaik aus unverbundenen Lösungen entstanden. Hier ein neues Flickwerk zu errichten, bremst den Erfolg der Digitalisierung – oder verhindert ihn sogar. Für Arztpraxen und Kliniken empfiehlt es sich daher, ihre IT auf den Prüfstand zu stellen und gegebenenfalls durch bessere Lösungen – am besten aus der Cloud – zu ersetzen. IT-Verantwortliche in Kliniken sollten dabei auch an die grundlegende Infrastruktur  für eine patientenzentrierte Medizin denken: Kliniken brauchen ein stabiles und breitbandiges WLAN in jeder Ecke bis in den Keller.

Horizont 2: Mehr Effizienz mit Telemedizin und Automatisierung

In Horizont 2 geht es um strategische Wachstumsinitiativen, die innerhalb der nächsten zwölf bis 36 Monate ihre Wirkung entfalten sollen.

Telemedizin ausbauen und Transparenz steigern

Die Möglichkeiten der patientenzentrierten Medizin gehen weit über Videokonsultationen hinaus. Sie ermöglichen es, eine vollständige Transparenz über alle Daten der Patientinnen und Patienten herzustellen. Dadurch lassen sich in Praxen und Kliniken Doppelerfassungen oder fehlende Daten vermeiden. Für die Patientinnen und Patienten ergibt sich ein Komfortgewinn: Sie geben relevante Inhalte ihrer elektronischen Patientenakte einfach an einen Facharzt oder eine Klinik weiter, ohne immer wieder Anamnesefragen beantworten zu müssen.

Gerade für Kliniken ist es wichtig, vor der Einführung telemedizinischer Lösungen die Bedürfnisse der Fachabteilungen abzufragen. Ein häufiger Fehler bei Digitalisierungsmaßnahmen sind „Grüne-Tisch-Entscheidungen”, die an den Bedürfnissen der Anwender vorbeigehen. Dies gilt auch für die Hersteller: Sie müssen digitale Produkte ständig weiterentwickeln, um mit der Innovationsdynamik Schritt halten zu können.

Digitale Visite und Patientendokumentation

In Krankenhäusern und Arztpraxen führt die Digitalisierung zur Ablösung von handschriftlich geführten Papierformularen. Der erste Schritt für Kliniken ist die Einführung eines Patientendokumentationssystems mit der Möglichkeit einer digitalen Visite. Ein mobiles Gerät gibt Auskunft und nimmt Eingaben entgegen. Die Visite wird dadurch effizienter und schneller, ohne dass die Qualität leidet. In Arztpraxen erfüllt ein Praxismanagementsystem die gleiche Aufgabe – die wertvolle Zeit der Sprechstunde wird effizienter genutzt.

Kliniken sollten diese Lösungen ausbauen und über den reinen Software-Aspekt hinausgehen. Sinnvoll ist zum Beispiel das Tracking und Tracing von medizinischen und pflegerischen Geräten, aber auch von Patienten. Häufig geht bei der Suche Zeit durch Telefonate und Lauferei verloren. Spezielle „Patches” an jedem Gerät und auch an der Kleidung jedes Patienten ermöglichen die Ortung per WLAN.

Prozesse automatisieren, konsolidieren und vernetzen

Die vorhandenen digitalen Lösungen sind oft nicht umfassend genug und haben keine Schnittstellen untereinander. Das Kopieren der Daten von Hand ist ein Muss. Robotic Process Automation (RPA) ersetzt den menschlichen Anwender durch Software-Roboter. Sie sind der erste Schritt zur Prozessautomatisierung. Ihr Vorteil: Sie arbeiten schnell und sind attraktiv für knappe Budgets, da zunächst keine neuen Softwarelösungen angeschafft werden müssen.

Ziel der Digitalisierungsstrategie sollte es letztlich sein, den digitalen Flickenteppich zu beseitigen. Dazu sind Schnittstellen zu allen anderen Akteuren im Gesundheitswesen notwendig. Für Kliniken sind insbesondere digitale Schnittstellen zu den überweisenden Ärzten und den Krankenkassen wichtig. Ohne eine grundlegende Vernetzung der einzelnen Akteure und den Aufbau von Datenflüssen wird die Digitalisierung des Gesundheitswesens unvollständig bleiben.

Horizont 3: Mit digitalen Ökosystemen die Patientenreise begleiten

In Horizont 3 verwirklichen Unternehmen das Zielbild ihrer digitalen Strategie, um langfristig zukunftssicher werden.

Durchgängige Patientenzentrierung erreichen

Das erstrebenswerte Ziel der Digitalisierung ist eine durchgängige Patientenzentrierung. Arztpraxen, Krankenhäuser und alle anderen Akteure im Gesundheitswesen erhalten eine ganzheitliche Sicht auf die Behandlung des Patienten, die „Patient Journey”. Dabei wird der Patient von der Prävention über die Diagnose und Therapie bis hin zur Nachsorge digital begleitet.

Auch die digitale Lücke zwischen ambulantem und stationärem Sektor muss geschlossen werden, denn der Rettungsdienst ist Teil der digitalen Medizin. Das Fernziel: Arbeitsabläufe orientieren sich an Behandlungspfaden und nicht mehr an Silos und Institutionen. Der Patient erhält an allen Stationen die optimale Versorgung.

Ein integriertes Ökosystem schaffen

Die Digital Patient Journey erfordert den Aufbau eines integrierten Ökosystems. Dazu gehören Datenflüsse zwischen allen Anwendungen und Akteuren. Das beginnt bei der Prävention, geht weiter mit Haus- und Fachärzten sowie Spezialisten wie Radiologen oder Laboren, Krankenhäusern, Rehakliniken und der ambulanten Nachsorge. Auch therapeutische Einrichtungen wie Physiotherapie und Logopädie sowie Datenströme aus Wearables (Fitbit, Apple Watch) gehören dazu.

Wichtige Akteure im medizinischen Ökosystem sind die Krankenkassen, die neben der Abrechnung auch Funktionen in der Prävention und Nachsorge übernehmen. Für sie ist es wichtig, dass Krankheiten gar nicht erst entstehen oder Rückfälle vermieden werden. Die Auswertung gesammelter Vital- und Behandlungsdaten („Big Data”) ermöglicht es dabei, die Versorgung in eine möglichst effiziente Richtung zu lenken.

Datensouveränität des Patienten

Voraussetzung für ein funktionierendes und patientengerechtes medizinisches Ökosystem ist die Datensouveränität des Patienten. Sie geht weit über den reinen Datenschutz hinaus, da der Patient zum eigentlichen Eigentümer seiner Daten wird. Medizinische Informationen sollten nicht ohne Zustimmung des Patienten weitergegeben werden. Dieses Thema bedarf allerdings noch einer breiten Diskussion im Gesundheitswesen. Soll das Google-Prinzip „Wir wollen alle Daten, aber nur für den Fall der Fälle” zum Vorbild werden?

Ein umfassendes Datenökosystem bietet jedoch viele Chancen. So kann das Gesundheitswesen weniger als Reparaturbetrieb, sondern mehr als Präventionscoach agieren. Der Patient rückt frühzeitig in den Fokus und wird zum Kunden, der gesund bleiben will.

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Haben Sie ihre Arztpraxis oder ihre Klinik schon digitalisiert? Welche Erfahrungen haben Sie dabei gemacht? Haben Sie besonderen Wert auf Prozessautomatisierung gelegt? Nutzen Sie ein digitales Ökosystem? Schreiben Sie uns oder hinterlassen Sie einen Kommentar.

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