Bei der digitalen Transformation des Gesundheitswesens geht es nicht darum, Insellösungen zu schaffen und kleine Stellschrauben zu bewegen, meint Prof. Dr. David Matusiewicz, Leiter des ifgs Institut für Gesundheit & Soziales an der FOM Hochschule sowie Gründer und CEO der DXM Group. Wer das Gesamtsystem bewegen will, muss über größere Lösungen nachdenken. Dabei geht es immer um die Interaktion mit anderen Akteuren. Der Ansatz muss sein, größere Ökosysteme mit verschiedenen Akteuren zusammenzufügen.
„ Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wie. Unternehmen sollten Gesundheitsökosysteme aktiv mitgestalten. Wenn sie nur zuschauen, dann unterliegen sie der Gefahr, dass es andere besser machen.“
Prof. Dr. David Matusiewicz, FOM Hochschule, Essen
Einige Leute sprechen von einer Amazonisierung des Gesundheitswesens. Wie ist das zu verstehen?
Plattformen werden eine sehr große Rolle spielen. Die wertvollsten Unternehmen der Weltwirtschaft sind Plattformen, die Anbieter und Nachfrager von mehreren Seiten zusammenbringen. Im Rahmen dieses Plattformgedankens braucht man ein ganzes Ökosystem, um zum Beispiel wieder vom digitalen zum analogen überzuleiten und umgekehrt.
Einzelne Akteure oder Unternehmen im Gesundheitssystem werden sich dem nicht entziehen können. Es geht also nicht um die Frage nach dem Ob, sondern eher um die Frage nach dem Wie. Unternehmen sollten das aktiv mitgestalten. Wenn sie nur zuschauen und in der Beobachterrolle bleiben, dann unterliegen sie der Gefahr, dass es andere besser machen.
Ein Beispiel ist die erwähnte Amazonisierung des Gesundheitswesens. Die von Amazon bekannten Vorschlags-Algorithmen lassen sich sehr leicht auf Apotheken übertragen, da sie sehr ähnliche Prozesse haben. Dann wissen die Unternehmen: Ein Patient kauft Vitamin D und die meisten Patienten, die Vitamin D kaufen, nehmen zusätzlich Vitamin K. Deshalb kann man das dem Patienten direkt vorschlagen.
Diese Vorschlagssysteme sind in der Lage, sich zu einer individualisierten Medizin weiterzuentwickeln – auch für weitere Medizinprodukte, etwa Hilfsmittel. Hier gibt es die Möglichkeit von Einkaufsgemeinschaften auf Plattformbasis, da die Einzelprodukte teilweise sehr teuer sind. Grundsätzlich wird im Gesundheitssystem immer mehr digital stattfinden, weil es schneller, transparenter und vor allem effizienter ist.
Bedeutet effizienter nicht auch kostengünstiger?
Ein großer Hebel für Ökosysteme sind die Kosten. Die Schere zwischen Einnahmen durch Beiträge oder Steuern und Ausgaben auf der anderen Seite wird immer größer. Viele Plattformen helfen dabei, auch unnötige Kosten zu vermeiden. Patienten erhalten dadurch durchweg Güter, die günstiger sind, aber genauso gut.
Ökosysteme können im System viel Geld einsparen, etwa durch Transparenz. Dabei werden unnötige Dinge einfach weggelassen, beispielsweise Doppeluntersuchungen oder unnötige Medikamente, die sich sogar teilweise in der Wirkung ausschließen. Dadurch lassen sich effizientere Angebote schaffen, die für an die Bedürfnisse eines Individuums zugeschnitten sind.
Eine weitere Möglichkeit ist die Kommunikation innerhalb von Patientengruppen, wahlweise auf Selbsthilfeplattformen. Das ist eine Chance für sehr seltene Erkrankungen, von denen es nur wenige Patienten in Deutschland gibt. Dadurch schaffen Ökosysteme eine Vernetzung, die dem Individuum einen großen Mehrwert gibt.
„Datenerhebung und Gesundheitsökosysteme sind eine Chance für die Heilung sehr seltener Erkrankungen, bei denen es nur wenige Patienten in Deutschland gibt.“
Prof. Dr. David Matusiewicz, FOM Hochschule, Essen
Beim Heben von Daten Gesundheitssystem geht es ja oft um Vorsorge. Welche Entwicklung gibt es in diesem Bereich?
Der nächste große Trend ist Precision Prevention. Der Begriff ist von der Präzisionsmedizin abgeleitet, die genau auf ein Individuum zugeschnitten ist. Auch in der Prävention ist das mithilfe von Daten möglich. Damit können Lösungen mit Genom-, Mikrobiomdaten und vielen anderen durch Sensorik erhobenen Informationen geschaffen werden. Das ist ein riesiger Markt, weil man früher anfängt mit Prognosen, sodass sich Krankheiten im frühen Stadium aufhalten oder heilen lassen.
Das gibt es bei vielen Erkrankungen: Je früher ich anfange, desto besser sind die Aussichten. Durch datengestützte Prävention ist es möglich, dass wir das bisherige zufallsgetriebene System verlassen, in dem Krankheiten mit einem großen Zeitverzug entdeckt werden.
Es gibt inzwischen sehr viele Möglichkeiten, Daten zu erheben, die es vor wenigen Jahren noch nicht gab. Beispielsweise sind bestimmte Algorithmen in der Lage, Geräusche aus dem Körperinneren abzuhören und daran Abweichung zu erkennen, die auf Krankheiten hinweisen. Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit, zahlreiche Biomarker mit Sensoren zu erfassen. Ein Beispiel: Wie schnell sich Gelenke nach einer Abkühlung wieder erwärmen, gibt Hinweise darauf, ob der entsprechende Patient Rheuma hat.
Am Ende wird eine Kombination aus sehr unterschiedlichen Sensoren und Biomarkern stehen, die zahlreiche Datenpunkte ergeben. Das wird einen hohen Mehrwert erzeugen. Dabei ist wirklich wichtig, dass von allen Menschen Daten erhoben werden. Heute ist es so, dass es durch die bisherige Datenerhebung Verzerrungseffekte gibt, wenn beispielsweise nur Sportler mitmachen, aber niemand sonst.
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Welche Akteure sind besonders für den Aufbau eines Gesundheitsökosystems geeignet?
Im jetzigen System ist die Krankenversicherung der Akteur, der über alle Daten und die Schnittstellen zu allen anderen verfügt. Sie muss in einem Ökosystem auf jeden Fall an Bord sein und dann mit innovativen Unternehmen aus der Industrie oder einem Netzwerk aus der Industrie zusammenarbeiten.
Unternehmen sollten in größeren Verbünden arbeiten und die Kräfte trotz Wettbewerb bündeln, weil dadurch mehr Transparenz, Wettbewerb und niedrige Redundanz entsteht. Dies gilt auch dann, wenn jede Kasse ein eigenes Ökosystem baut.
Der Markt ist im Moment in einer Sondierungsphase. Wer wird die große Plattform, das große Ökosystem von morgen? Es ist nur eine oder sind es mehrere? Wer ist daran beteiligt? Alle wollen jetzt den Hut aufhaben, alle wollen dabei sein. Doch die Frage ist, wer sich letztlich durchsetzt.
Ich glaube nicht an die Innovation durch die Politik von oben, sondern durch das Unternehmertum von unten. Die Menschen werden mit den Füßen abstimmen und anzeigen, wo für sie der größte Nutzen im System erbracht wird.
Mit Blick auf die großen Plattformen in den USA oder China ist die Vermutung stark, dass es nicht die eine, aber eine Handvoll Plattformen geben wird, für die auch unser Markt sehr attraktiv ist, und die aber auch von den Kunden angenommen werden.
„Ich glaube nicht an die Innovation durch die Politik von oben, sondern durch das Unternehmertum von unten. Die Menschen werden mit den Füßen abstimmen und dahin gehen, wo für sie der größte Nutzen ist.“
Prof. Dr. David Matusiewicz, FOM Hochschule, Essen
Wie lassen sich diese unterschiedlichen Akteure unter einen Hut bringen? Hier ist häufig von Orchestrierung die Rede.
Die Orchestrierung eines Ökosystems verstehe ich dezentral. Jeder Teilnehmer leistet einen Beitrag, als Anbieter, als Dienstleister, aber auch als Kunde, der die Verantwortung hat, damit vernünftig umzugehen. Von daher sehe ich nicht den einen Orchestrator. Ich glaube, dass es am Ende eine Art Ensemblespiel ist, wo sehr vieles gut zusammenspielen muss, damit das Ganze funktioniert und die Akzeptanz erhöht wird. Letztlich müssen alle Akteure ein anderes Mindset haben und nicht immer nur daran denken, was sie selbst davon haben, sondern wie sie das Gesamtsystem besser machen.
Welche Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der zweite Gesundheitsmarkt?
Der zweite Gesundheitsmarkt ist sehr stark. Ich kann mir mit Geld fast alles im Bereich Prävention, Diagnostik, Therapie und Nachsorge kaufen – und zwar innerhalb kurzer Zeit. Wir haben ein Gesundheitssystem der zwei Geschwindigkeiten, wo normale Patienten monatelang mit unklarer Diagnose herumlaufen oder keine Therapiemöglichkeiten finden. Patienten des zweiten Gesundheitsmarkts dagegen kommen viel schneller zum Ziel.
Die Marktanteile werden sich in Zukunft etwas verschieben. Wir haben heute staatsnahe Systeme, die durch das Sozialgesetzbuch geregelt sind. Doch jüngere Leute wollen das nicht mehr akzeptieren, weil es zum Teil unverständlich ist. Das liegt größtenteils auch an der mangelnden Digitalisierung. So versteht heutzutage niemand mehr, warum bei der Überweisung in ein anderes Krankenhaus Untersuchungsergebnisse von bildgebenden Verfahren auf eine CD gebrannt und per Taxi in das zweite Krankenhaus gefahren werden.
Das Gesundheitssystem ist in der Digitalisierung teils stark zurückgeblieben. Wie würden sie dieses Problem lösen?
Durch Digitalisierung entsteht eine Bewertung der Leistungen des Gesundheitssystems, beispielsweise über Vergleichsportale. Dadurch kann es zu einer Marktbereinigung kommen. Das beste Beispiel sind die Apotheken, die mehr als zehn Jahre verplempert haben. Internet-Apotheken schlecht zu reden ist gefährlich für das Gesundheitssystem, stattdessen sollte es eine gemeinsame Lösung geben. Denn die Apotheken haben inzwischen gemerkt, dass sie das Wettrennen verlieren werden.
Ich denke, dass Amazon und Apple sehr stark in das Gesundheitssystem investieren werden. Und durch ihre Größe werden sie automatisch große Lösungen anbieten. Diese werden nicht aus dem System kommen, sondern bestenfalls mit Akteuren aus dem System gemeinsam entwickelt werden.
Ich sehe drei wichtige Wege für die Weiterentwicklung des Gesundheitssystems. Erstens muss das System offener, risikobereiter und schneller werden – eine kulturelle Frage. Zweitens brauchen wir eine Weiterbildung in Sachen Digitalisierung. Drittens geht es darum, Experimentierfreudigkeit und den Mut zum neuen Wegen zu entwickeln. Risikofreude ist gefragt. Die Akteure sollten in der Lage sein, auch einmal Geld und Ressourcen in den Sand zu setzen. Erst dann passiert etwas, von dem man lernen kann und was zu größeren Effekten führt.