Volker Lang: „Daten können Leben retten“

von Bernhard Steimel
27. Januar 2023

Titelbild: Michael Bührke  / pixelio.de

Gesundheitsdaten sind das wichtigste Mittel, um Patienten ein besseres und gesünderes Leben zu erlauben, meint Volker Lang, Senior Vice President Research and Development bei Biotronik. In unserem Interview spricht er über das Erheben und Auswerten von Daten und den neuen, „smartifizierten“ Biotronik-Herzschrittmacher, den das Unternehmen zusammen mit der Telekom entwickelt hat. Seine These: Gesundheitsökosysteme gehen nur im Verbund.

Ein Herzschrittmacher mit IoT-Verbindung (Quelle: Biotronik)

Auf welche Weise helfen Verfahren zur Datenerhebung und -analyse einem Patienten?

Daten können Leben retten. Das zeigt sich am besten bei einer ganz bestimmten Patientengruppe, nämlich Patienten mit Herzinsuffizienz. Sie haben nicht mehr genügend Herzleistung, um normal Sport zu treiben oder auch einkaufen zu gehen. Diese Krankheit ist hochdynamisch, sie kann sich sehr schnell verschlimmern und wird nur selten besser. Die Verschlimmerung sollte rechtzeitig erkannt werden, dann kann der Arzt gegensteuern und das Leben der Patienten retten.

Letztlich erhöht das auch die Lebensqualität des Patienten. Dafür ist notwendig, dass die Daten sehr schnell und zuverlässig beim Arzt ankommen. Man muss normalerweise innerhalb von wenigen Tagen auf eine Verschlechterung reagieren. Wenn der Datensatz erst nach einigen Wochen oder nach einem halben Jahr kommt, ist es zu spät.

Erstens ist dafür der Ansatz sinnvoll, das Internet of Things und Sensoren zu nutzen, um oft zu messen (etwa jede Stunde) und ein- oder zweimal am Tag Daten zu übertragen. Dadurch kann der Arzt einen Trend erkennen und rechtzeitig darauf reagieren.

Zweitens muss es sehr klare Regeln geben, was passiert, wenn Daten ankommen. Es muss so etwas wie eine „Standard Operating Procedure“ geben. Der Arzt muss genau wissen: Wenn diese Daten ankommen, muss er so reagieren; wenn andere Daten ankommen, muss er etwas anderes machen.

Drittens müssen die Krankenhäuser und Ärzte auch in der Lage sein, auf die Daten zu reagieren. In Zeiten, in denen in den Praxen und Kliniken Fachkräftemangel herrscht, ist es schwierig, so eine Zusatzaufgabe zu übernehmen.

Der Patient ist ja schon sehr gut versorgt mit einem Schrittmacher. Die Grundversorgung ist also da, aber es geht hier darum, die Lebensqualität zu verbessern und die Sterblichkeit zu verringern. Für die Patienten ist es eben notwendig, diesen verbesserten Standard zu erhalten. Deshalb muss das Krankenhaus/Arzt auch Geld dafür bekommen, wenn es diese Zusatzleistungen macht, sonst rechnet es sich nicht.

Ihr Unternehmen Biotronik hat dafür einen entsprechenden Service eingeführt – das Home Monitoring System. Welche Erfolge haben Sie damit erreicht?

Innerhalb einer medizinischen Studie konnte Biotronik nachweisen, dass mit diesem neuen System die Sterblichkeit um mehr als 50 Prozent reduziert werden konnte. Das hängt in erster Linie damit zusammen, dass auf die Veränderung des Gesundheitszustandes der Patienten, die in dieser Patientengruppe fast immer zum schlechteren erfolgt, der Arzt schneller reagieren und sehr schnell mit Maßnahmen diese Verschlechterung kompensieren konnte. Dazu gehört zum Beispiel eine Änderung der Medikamentenabgabe.

Aufbauend auf diese Erkenntnis  hat Biotronik ein medizintechnisches Produkt entwickelt. Es besteht aus zusätzlichen Sensoren, die in den typischen Herzschrittmachern integriert wurden und somit ohne Zusatzgeräte implantiert werden können. Diese Plattform ermöglicht die häufige Übertragung der Daten, normalerweise täglich. Das hat sich in der klinischen Studie auch als praktikabel und notwendig herausgestellt.

Anschließend kommt die Verarbeitung: Die Daten werden automatisch analysiert, sobald sie hereinkommen. Der Arzt wird bei entsprechend negativer Datenentwicklung durch eine Push-Message davon in Kenntnis gesetzt, dass ein Patient von einem stabilen Zustand in ein höchstwahrscheinlich instabilen und schlechteren Zustand gerutscht ist. Dann kann er auf diesen Patienten direkt zu gehen.

Normalerweise haben Ärzte oder Krankenhäuser vielleicht 100-200 dieser Patienten, in großen Häusern sind es vielleicht sogar 1000. Deswegen ist es ganz wichtig, dass den Ärzten ganz spezifisch mit einer hohen Sensitivität nur die Patienten genannt werden, die dann auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in einen schlechteren Zustand fallen.

„Die Grundversorgung mit einem Herzschrittmacher ist wichtig. Es geht aber darum, die Lebensqualität des Patienten zu verbessern und die Sterblichkeit zu senken.“

Ist ein solches System ein wichtiger Faktor bei der Lösung der Probleme des Gesundheitssystems?

Ich denke ja, aber es wird nicht durch eine solche Einzelmaßnahme gelöst. Es gibt vielmehr ein systemisches Problem über ganz viele Patienten und viele Krankheitsbilder hinweg. Es lässt sich nur dann lösen, wenn wir für viele oder alle der großen Volkskrankheiten einen systematischen Ansatz für die Übertragung von relevanten Informationen, deren automatische Auswertung und der Verbesserung der Lebensqualität haben.

Die Bestandteile eines solchen Systems sind in jedem Fall genau gleich: Wir benötigen Sensoren, wir benötigen eine automatische Auswertung, wir benötigen ein Alarmsystem. Soweit in diesen Daten Veränderungen im Krankheitsbild, also meistens eine Verschlimmerung auftreten, muss auch darauf reagiert werden. Das Ganze wird komplizierter, weil es sich um ganz verschiedene Patienten handeln wird, die von ganz verschiedenen Medizintechnikfirmen unterstützt werden in der Behandlung und von ganz unterschiedlichen Professionen in der Ärzteschaft behandelt werden.

Um dieses Systemproblem zu lösen, benötigt man ein allumfassendes System und deswegen habe ich den Gedanken, die Situation mit einem Ökosystem zu untermauern. Keine Einzelfirma, kein Krankenhaus und keine Krankenkasse wird es allein schaffen, dieses Problem zu lösen. Es geht nur im Verbund.

Wie könnte das konkret aussehen? Was müssen die Akteure im Gesundheitssystem unternehmen?

Ein wichtiges Element dabei ist das hoch automatisierte Messen. Und da denke ich, dass in vielen Fällen der Patient Selbstvermessung nutzen kann und muss. Das ist also das Sammeln von Daten auf Smartwatches, Wearables oder kleinen Patches, die für ein oder zwei Wochen auf die Haut geklebt werden.

Dadurch entstehen große Mengen an Rohdaten, die kein Arzt mehr verarbeiten kann. Dafür muss es ein automatisches System geben, dass alle diese Sensordaten zusammenfasst, mit Machine Learning auswertet und daraufhin für verschiedene Krankheitsbilder hochspezifische Alarme erzeugt.

Ein wesentlicher Aspekt von Gesundheitsdaten ist der Kontext. Jeder Patient ist anders und die Daten müssen im Kontext interpretiert werden. In diesem Zusammenhang heißt Kontext beispielsweise: Welche Grunderkrankung hat der Patient? Wie ist der Patient über seine Familie und seine Genetik vorbelastet?

Wenn es eine Historie von Krebs gibt, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man Krebs bekommt. Dasselbe gilt für Vorhofflimmern: Wenn es in der Familie hier eine Historie gibt, dann muss sich auch der Patient mit dem Thema Vorhofflimmern auseinandersetzen, und zwar ganz anders als eine Person, dessen familiäre Vorbelastung nicht existiert.

Der Arzt muss also von bereits bestehenden Erkenntnissen wissen. Deswegen ist die Patientenakte sehr wichtig, dies heute noch nicht gibt. Der Idealzustand wäre, wenn alle Informationen, die über den Patienten schon gesammelt wurden, dort mit hineinfließen. Die Patientenakte sammelt alle Daten aus der Vermessung, die von anderen Ärzten, von Pflegediensten und ähnlichen Dienstleistungen kommt. Das ist erst mal wesentlich für den Algorithmus.

„Der Arzt muss von bereits bestehenden Erkenntnissen wissen. Deswegen ist die elektronische Patientenakte sehr wichtig. Der Idealzustand ist, wenn alle Informationen über den Patienten dort hineinfließen.“

Dabei werden viele persönliche Daten ausgetauscht. Wie sieht es mit dem Datenschutz aus?

Der Datenschutz lässt sich vergleichsweise leicht behandeln: Der Patient muss seine Zustimmung geben, dass seine Daten gesammelt werden. Dadurch hätte man das Problem schon gelöst. Allerdings muss sich ein Arzt zusätzlich darum kümmern, dass eventuelle historische Daten aus seiner Verwandtschaft ebenfalls mit einem Einverständnis vorliegen.

Der Datenschutz ist auch der Grund dafür, dass nur dezentrale Lösungen möglich sind: Ohne Einverständniserklärung können Daten nicht zentral gesammelt werden. Die jetzige Gesetzgebung wird uns dazu zwingen, dass der Patient seine Daten selbst sammelt. Das muss natürlich trotzdem automatisiert erfolgen und der Patient kann dann anschließend die Daten nach seinen Vorstellungen freigeben.

Meine persönliche Erfahrung ist, dass die Patienten das sehr gerne machen, wenn sie die unmittelbaren Vorteile sehen. Die gibt es in den allermeisten Fällen auch. Deswegen ist es lediglich ein praktisches Problem, dass der Patienten diese Freigaben auch tatsächlich geben muss.

Wie lassen sich diese einzelnen Datensammlungen zu einem Ökosystem zusammenführen?

Der Aufbau von Ökosystemen ist nicht einfach, vor allem einige Startups haben ein grundsätzliches Problem. Ihnen fehlen normalerweise die Verknüpfung mit anderen Stakeholdern. Die meisten Startups hängen zumeist an einem, aber eben auch nur einem großen Stakeholder, beispielsweise an einer Krankenversicherung. In diesem Fall fehlen aber die anderen Stakeholder wie Medizintechnikfirmen, Pharmafirmen oder die Krankenhäuser. Einige andere Startups hängen an den großen Universitätskliniken. Gerade die Charité zum Beispiel hat ein sehr gutes Ökosystem aufgebaut. Dort fehlen aber wieder andere Stakeholder.

Das ist ein Problem, das muss gelöst werden. Aber es gibt meines Wissens noch keine Startups, die dieses Multi-Stakeholder-Problem tatsächlich gelöst haben. Das geht eigentlich nur, indem man miteinander redet in Arbeitsgruppen auf Veranstaltungen und sich tatsächlich verknüpft. Eine europäische Lösung wäre übrigens ideal, allerdings müssen wir zunächst einmal auf der Ebene von Deutschland, also auf der nationalen Ebene einige gute Beispiele in die Welt setzen. Damit wäre schon sehr viel geholfen, da auch die Gesundheitskosten national getragen werden.

Wenn es ausreichend positive Beispiele gibt, die genügend Patienten anziehen, dann wird eine Dynamik im Markt erzeugt. Wenn erste Systeme funktionieren, dann werden auch andere folgen.

Das ist genau die Idee hinter dem Vorgehen von Telekom und Biotronik. Wir nehmen ein bestimmtes Beispiel heraus für die verschiedenen Stakeholder. Daran lernen wir, welche Randbedingungen der Stakeholder gut, welche weniger gut funktionieren. Daraufhin wird die Lösung angepasst und man hat zumindest einmal eine Durchstich-Lösung gemacht.

Dadurch hat man einmal ein Beispiel von links nach rechts durchdekliniert und hat alle Vor- und Nachteile und alle funktionierenden Dinge herausgefunden. Sobald dieses kleine Ökosystem funktioniert in alle Stakeholder tatsächlich begeistert sind, kann man auch sehr leicht Begeisterung für ein grundsätzliches System erzeugen.

Dass ist meine Überzeugung: Man muss erst mal nachweisen, dass es in einem kleinen Feld geht, bevor man die große Lösung anbieten kann. Dazu gehört eben das Sammeln von Daten. Und dazu gehört auch, dass der Patient diese Daten sammelt. In unserem Beispiel sammelt der Patient Daten auf dem Smartphone. Und dann gibt es an ganz bestimmten Stellen Interfaces, über die Daten mit anderen Stakeholdern geteilt werden.

„Einen einheitlichen Orchestrator wird es nicht geben. Es muss eine kleine Gruppe von Akteuren geben, die diese Orchestrierung eines Gesundheitsökosystems gestalten.“

Wie lässt sich ein solches Ökosystem orchestrieren? Welcher Akteur eignet sich am besten für diese Rolle?

Man muss unterscheiden zwischen Kernakteuren und Unterstützungsdiensten. So sind beispielsweise IT-Anbieter und Labore eher Unterstützungsdienste. Pharma und Medizintechnik sind dagegen wirklich Kernakteure, da sie eine wichtige Rolle bei der Früherkennung spielen. Sie werden Alarmalgorithmen bereitstellen, die beispielsweise die Medikation verändern.

Einen einheitlichen Orchestrator wird es in einem Gesundheitsökosystem nicht geben, weil der einzelnen Stakeholder ganz verschiedene Randbedingungen haben, die zu einer unterschiedlichen Incentivierung führen. Es handelt sich hier um ein Systemproblem, das man lösen muss und nur lösen kann, wenn tatsächlich unterschiedliche Gesichtspunkte vorhanden sind. Deswegen glaube ich, muss es eine kleine Gruppe von Akteuren geben, die diese Orchestrierung gestalten.

Dabei sollten die folgenden Akteure teilhaben: die Krankenkasse, die Industrie (Pharma und Medizintechnik), IT-Servicedienstleister, Labore und Startups. Normalerweise sind das hier privatwirtschaftliche Anreize. Doch die Krankenhäuser gehören auch dazu, da sie die Leistung ja tatsächlich vollziehen.

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