Die Diskrepanz zwischen der allgemeinen wirtschaftlichen Krisenwahrnehmung und der individuellen wirtschaftlichen Lage hat sich in Deutschland dramatisch vergrößert. Aktuelle Erhebungen der Forschungsgruppe Wahlen zeigen, dass lediglich 7 % der Befragten ihre eigene wirtschaftliche Lage als schlecht bewerten, während die allgemeine Wirtschaftslage so pessimistisch gesehen wird wie zuletzt im Zuge der Finanzkrise 2009. Dieser Widerspruch ist kein neues Phänomen – vielmehr spiegelt er eine kognitive Verzerrung wider, die bereits von Elisabeth Noelle-Neumann als „doppeltes Meinungsklima“ beschrieben wurde.
Der SAFE-Index: Verhaltener Pessimismus in der Unternehmensführung
Der SAFE-Index zur Manager-Stimmung, herausgegeben vom Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung, bestätigt diese Ambivalenz. Spitzenmanager der DAX-Unternehmen zeigen sich verhalten pessimistisch, doch ihre Aussagen unterscheiden sich je nach Branche deutlich. Während sich Tech- und Gesundheitsunternehmen optimistisch äußern, spiegelt sich in energieintensiven Industrien wie Chemie und Stahl eine deutliche Skepsis wider. Die Methodik des SAFE-Index basiert auf der Analyse von Wortfeldern in Unternehmensberichten und Analystenkonferenzen. Positive Begriffe wie „Wachstum“ und „Erfolg“ werden gegen negative Begriffe wie „Schwierigkeiten“ und „Abbau“ aufgerechnet.
Interessanterweise korreliert der Index langfristig negativ mit den Aktienrenditen: Ein besonders positiver Sprachgebrauch der Manager geht häufig einer Phase schwächerer Unternehmensperformance voraus. Dieses Muster legt nahe, dass Optimismus in den Chefetagen nicht zwangsläufig mit wirtschaftlicher Substanz einhergeht, sondern teils eine Reaktion auf Krisen sein kann.
Der Mittelstand als Stabilitätsanker
Parallel dazu liefert Bernhard Steimel, Studienautor und Berater für digitale Transformation, eine erfrischend andere Perspektive. Seine tiefgehenden Befragungen im Rahmen des Green Monday zeigen, dass 60 % der befragten Mittelständler ihre eigene Lage als gut einschätzen. Hidden Champions und Familienunternehmen agieren oft unter anderen wirtschaftlichen Bedingungen als große DAX-Konzerne. Während die weltpolitische Lage und mediale Krisenberichte die allgemeine Wirtschaftswahrnehmung verdunkeln, stützt sich der Mittelstand auf eigene Erfahrungswerte und operative Resilienz.
Psychologische Mechanismen und narrative Ökonomie
Warum klafft die Wahrnehmung so stark auseinander? Wilhelm Röpke, einer der Vordenker der sozialen Marktwirtschaft, beschrieb bereits 1932 in „Krise und Konjunktur“ die Bedeutung psychologischer Faktoren für die Wirtschaft. Menschen handeln nicht auf Basis objektiver Fakten, sondern auf Basis ihrer Interpretation dieser Fakten. Medien tragen dazu bei, Krisennarrative zu verstärken, die das Vertrauen in die Wirtschaft untergraben können.
Narrative Ökonomie, ein Konzept des Wirtschaftsnobelpreisträgers Robert Shiller, zeigt, dass wirtschaftliche Stimmungen nicht nur durch Zahlen, sondern auch durch Geschichten geformt werden. Der Mittelstand, der in Steimels Analysen eine optimistischere Perspektive vertritt, verlässt sich mehr auf seine eigene wirtschaftliche Erfahrung als auf abstrakte Marktindikatoren.
Die Gefahr der self-fulfilling prophecy
Das Phänomen des „doppelten Meinungsklimas“ bleibt ein bedeutender Faktor für die Konjunkturentwicklung. Wenn das allgemeine Stimmungsbild zu negativ gezeichnet wird, kann dies reale wirtschaftliche Konsequenzen haben: Konsumzurückhaltung, Investitionsstau und sinkende Marktstabilität. Der SAFE-Index und Steimels Analysen zeigen, dass es entscheidend ist, wirtschaftliche Realitäten differenziert zu betrachten und nicht allein medial geformten Krisennarrativen zu folgen. Die Wirtschaft bleibt ein komplexes System, das weniger von Schlagzeilen als von den realen Handlungen der Marktakteure geprägt wird.
Siehe auch die Studie zur doppelten Transformation, die Ihr kostenlos herunterladen könnt.