Es ist eine unbequeme Wahrheit: Der Kapitalismus kann nicht mehr einfach als amorphes Profitmaximierungsgebilde betrachtet werden, das sich über Konkurrenz und Marktdynamik selbst reguliert. Er trägt Verantwortung. Aber nicht, weil irgendein Bundeskanzler dies fordert oder weil politische Programme es festschreiben, sondern weil es die Wirtschaft selbst ist, die moralische Fragen beantworten muss. So brachte es Markus Gabriel während des Gesprächs mit Wolf Lotter und Gerd Scobel auf den Punkt: „Es ist nicht die Aufgabe eines Bundeskanzlers, unsere moralischen Probleme zu lösen. Das ist Sache der Wirtschaft.“
Es klingt paradox, weil wir uns jahrzehntelang darauf verlassen haben, dass Politik moralische Fragen klärt, während Unternehmen sich darauf beschränkten, Mehrwert zu generieren. Doch was, wenn sich beides nicht länger trennen lässt? Was, wenn Gewinnmaximierung nicht mehr ohne moralische Reflexion funktioniert?
Die Schweiz als Modell? Warum Qualität ein unterschätzter Erfolgsfaktor ist
Markus Gabriel formulierte es klar: „Wir schätzen die Schweiz nicht wegen ihrer Neutralität, sondern wegen ihrer Qualität.“ Ein Satz, der viel über unser eigenes wirtschaftliches Selbstverständnis verrät. Die Schweiz hat verstanden, dass langfristiger Erfolg nicht aus der Minimierung von Risiken, sondern aus der Maximierung von Qualität entsteht. Das Gegenmodell dazu ist Deutschland, wo Risikovermeidung das unternehmerische Handeln dominiert und eine Art planwirtschaftliche Psychologie die Innovationskultur erstickt.
Hier liegt das Dilemma: Deutsche Unternehmen sind oft so darauf bedacht, Planbarkeit zu gewährleisten, dass sie den Faktor Zufall systematisch ausschalten. Doch genau dieser Zufall ist es, der Fortschritt ermöglicht. Hermann Lübbe hat es auf den Punkt gebracht: „Es fehlt das Spiel mit dem Zufall.“ Statt zu akzeptieren, dass Fehler, Iterationen und unerwartete Entdeckungen essenziell sind, setzen viele Firmen auf Sicherheit und berechenbare Modelle – und verkommen so zu Verwaltern des Status quo.
Beharrungsmanagement – Wie Piëch gestürzt wurde und was wir daraus lernen können
Dass dieses Beharrungsmanagement tief in der deutschen Unternehmenskultur verankert ist, zeigt ein Blick auf die Automobilindustrie. Ferdinand Piëch, einer der letzten großen Innovatoren der Branche, setzte auf radikale Effizienz und technische Perfektion. Doch als er mit dem VW Lupo einen neuen, effizienten Kleinwagen auf den Markt brachte, wurde er im eigenen Konzern ausgebremst. „Das war eine Kampfansage an die Beharrungskräfte, die alles so lassen wollten, wie es war“, so Lotter. Am Ende wurde Piëch abserviert – ein Muster, das sich in vielen großen Unternehmen wiederholt.
Statt wie Rügenwalder zu agieren – ein Unternehmen, das den Paradigmenwechsel zur pflanzlichen Ernährung aus unternehmerischer Intelligenz und nicht aus politischer Vorgabe vollzog – verharren viele Firmen in überholten Modellen. Sie setzen nicht auf hybride Denkweisen, wie es in Japan gängige Praxis ist, sondern auf eine starre, eindimensionale Strategie. „Nicht nur auf ein Pferd setzen, den Wahrscheinlichkeitsraum erweitern“ – eine Überlegung, die ich in diesem Zusammenhang für zentral halte.
Die Blackbox Kundenmarkt – Warum Unternehmen nicht wissen, was ihre Kunden wirklich wollen
Ein weiteres Problem der deutschen Wirtschaft: Sie versteht ihren eigenen Markt nicht mehr. Lotter bezeichnete es als „die Blackbox Kundenmarkt“. Die Unternehmen produzieren, was sie für richtig halten, nicht, was ihre Kunden wollen. „Die Annahme, dass wir aus Marktforschung und Trends die Zukunft exakt ableiten können, ist ein Trugschluss. Wir brauchen eine Kultur der Erprobung und Anpassung.“
Doch dazu müssten Unternehmen sich auf eine neue Art der Erkenntnisgewinnung einlassen. Nicht nur Marktforschung, sondern Psychologie. „Eigentlich müssten Unternehmen Psychologen einstellen, um zu verstehen, was Menschen wirklich glauben – nicht nur, was sie zu glauben vorgeben“, sagte Gabriel. Doch diese Art von moralpsychologischer Forschung wird bislang kaum betrieben. Unternehmensberatungen analysieren Prozesse, optimieren Kosten und standardisieren Abläufe, aber sie leisten eines nicht: Sie beschreiben nicht, was Menschen wirklich antreibt.
CPO und die Notwendigkeit einer Ethikabteilung
Markus Gabriel führte einen zentralen Gedanken ein: Die Notwendigkeit einer Ethikabteilung in Unternehmen. „Die von mir vorgeschlagene Ethikabteilung wird ihr womöglich schon früh raten, ihr Geschäftsmodell geschickt aufzuspalten, um die Monopolbildung zu vermeiden, ehe es staatlicher Eingriffe bedarf.“ Damit zeigt er auf, dass moralisch reflektiertes Handeln nicht nur eine Frage der Ethik, sondern auch ein ökonomischer Vorteil sein kann. Ein Chief Philosophy Officer (CPO) könnte diese Prozesse leiten und sicherstellen, dass ethische Reflexion zu einem strategischen Werkzeug wird.
Die Rolle einer Ethikabteilung wäre nicht die eines PR-Instruments, sondern einer fundamentalen strategischen Einheit. Sie müsste tief in die Unternehmenskultur eingreifen, strategische Empfehlungen aussprechen und verhindern, dass Unternehmen sich in kurzfristigen Gewinnmaximierungen verheddern, die langfristig zum Nachteil werden. „Nichts – außer einer pauschalen und unrealistischen Kapitalismuskritik – spricht dagegen, das moralisch Gute mit unternehmerischen Mitteln auch in Profit zu verwandeln“, so Gabriel.
Ein Kapitalismus, der nicht moralisch ist, wird nicht überleben
Zum Ende der Diskussion stellte Scobel die entscheidende Frage: „Was folgt daraus konkret?“ Die Antwort war klar: „Kapitalismus ist nicht asozial. Er ist von Anfang an eine Theorie der Gesellschaft.“ Wer glaubt, Wirtschaft könne sich aus moralischen Fragen heraushalten, irrt. Der Markt ist keine neutrale Instanz. Er ist eingebettet in gesellschaftliche Strukturen und Werte.
Die Debatte zwischen Markus Gabriel und Wolf Lotter hat deutlich gemacht: Es reicht nicht, den Kapitalismus moralisch aufzuladen. Es geht darum, ihn als inhärent moralisches System zu begreifen – eines, das nicht nur Gewinne, sondern auch Verantwortung erzeugt. Unternehmen, die das verstehen, werden nicht nur wirtschaftlich erfolgreicher sein. Sie werden auch die Zukunft gestalten.
3 Kommentare
Zuerst einmal ein zarter, aber bestimmter Widerspruch: Kapitalismus ist keine Theorie der Gesellschaft, sondern ein Bündel beziehungsweise ein System kultureller Praktiken in der Gesellschaft, aus denen sich dann eine Theorie der Gesellschaft ableiten lassen kann. (Prominent: Karl Marx und Friedrich Engels, wobei vor allem Letzterer ein Empiriker und Beobachter der Gesellschaft und ihrer Praktiken war.) Die Anfänge des Kapitalismus liegen zunächst mal in den technischen Innovationen in der Zeit. Erfindungen des Rads und Schiffs oder des Fermentierens und des Pökeln ermöglichte es, größere Herden (daher Kapitalismus, von lat. ‚caput‘, Kopf) zu bewirtschaften. Die Tauschwirtschaft und eine immer komplexere Arbeitsteilung bei Lagerhaltung (eben dem Kapital) als Folge. Mangel und Überfluss konnten durch Tausch nivelliert werden. An den Märkten fand zudem Preisbildung statt: Aus Subsistenz wurde Marktwirtschaft als dominierendes System. In der nächsten Phase kam das Geld als Proxy hinzu. Darum entstanden wiederum komplexe Institutionen, wie die Banken in Norditalien, die Bank der Fugger nördlich der Alpen, die Wisselbank und der Börse in Amsterdam, die Kreditkarte und Bitcoin. Die Marktwirtschaft ist somit Entstehungsgrund des Kapitalismus (Überschuss, Lager, Tausch, Preisbildung und daraus resultierende Praktiken und Institutionen). Das perfide ist allerdings, dass die Marktwirtschaft zwar dieser Entstehungsgrund aber immer weniger die Existenzbedingung des Kapitalismus ist, sondern dass die sich selbst bezweckende Kapitalbewegung (in Marxscher oder Gutenberg’scher Diktion: W-W > W-G-W > G-W-G‘ > G-G‘) als mögliches Endstadium darstellt (schon in den 1980ern bei bei Rock/Rosenthal oder Frank Witt nachzulesen). Ich fürchte, dass wir gerade Zeugen dieser Entwicklung sind. Der Kapitalismus ist nicht per se moralisch, sondern spätestens seit dem Mittelalter sind es die regulativen Institutionen (…Hansetag, mittelalterliche Marktgesetze, aber historisch auch Klerus und Adel), die einen moralischen und gelingenden Kapitalismus überhaupt es ermöglichen (im Sinne von Bekämpfung von Knappheit und Vorteilsnahme, Ausgleich von Machtgefällen, Agenturproblemen etc).
Zarter Widerspruch akzeptiert – doch mit einer Präzisierung. Kapitalismus ist nicht nur ein Bündel kultureller Praktiken, sondern strukturiert diese zugleich normativ. Die Praxis geht der Theorie nicht nur voraus, sondern erzeugt auch ihre eigenen Meta-Erzählungen, die dann als Gesellschaftstheorie codiert werden.
Marx und Engels haben dies treffend beschrieben: Der Kapitalismus ist nicht einfach eine wirtschaftliche Ordnung, sondern eine gesellschaftliche Formationslogik, die Institutionen, Werte und Deutungsmuster hervorbringt. Engels, der Empiriker, sah in der Praxis den Schlüssel – doch die Praxis war nie „nur“ Praxis, sondern stets auch ideologisch vermittelt.
Die Frage ist also: Wo ziehen wir die Grenze zwischen einem „Bündel kultureller Praktiken“ und einer „Theorie der Gesellschaft“? Liegt die Trennlinie in der analytischen Rückschau – oder in der inhärenten Struktur des Kapitalismus selbst, die das Denken über ihn notwendig macht?
Eine Theorie ist immer der Versuch einer Erklärung, mit dem Ziel das Wesentliche im Untersuchungsgegenstand herauszuarbeiten. Da Kapitalismus ohne Erklärung auskommt, ist er Praxis und nicht Theorie (auch keine Praxis-Theorie). Zudem sprechen wir korrekterweise nicht von *dem* Kapitalismus, sondern „Varieties of Capitalism“ (Hall und Soskice), also unterschiedlichen Bündeln vom Praktiken: der rheinische Kapitalismus ist nicht der Peking Kapitalismus, der Palo Alto Kapitalismus nicht der Texas Kapitalismus.