Die unsichtbare Front: Warum ökonomische Sicherheitspolitik zur Verteidigungsstrategie werden muss

von Gunnar Sohn
16. Februar 2025

Die Nation, die ihre Wirtschaft nicht verteidigen kann, wird ihre politische Souveränität verlieren. Wirtschaft und Sicherheit waren noch nie voneinander zu trennen, doch erst in Zeiten akuter Krisen wird diese Wahrheit zur brutalen Realität. Handelsrouten, Energieversorgung, strategische Industrien – sie sind die Schlachtfelder des 21. Jahrhunderts. Wer hier verliert, wird nicht durch Panzer unterworfen, sondern durch Abhängigkeit und Erpressbarkeit entmündigt.

1. Die neue Kriegführung: Kontrolle ohne Schüsse

Die klassischen Kategorien der Geopolitik haben ausgedient. Wirtschaft ist längst ein Instrument der Machtausübung, das keine Truppenbewegungen benötigt. Russland demonstriert es mit Gaslieferungen, China mit Seltenen Erden, die USA mit Finanzsanktionen. Jeder Staat, der sich seiner wirtschaftlichen Abhängigkeiten nicht bewusst ist, kann über Nacht zu einer Geisel globaler Interessen werden. Sicherheit ist keine Frage der Rüstungsetats mehr, sondern eine des Zugangs zu Rohstoffen, Daten und Produktionskapazitäten.

2. Die strategischen Engpässe Europas

Europa hat sich freiwillig in eine ökonomische Belagerung begeben. Jahrzehntelang wurde die Illusion gepflegt, dass Marktkräfte allein für Stabilität sorgen. Nun zeigt sich das Gegenteil: Kritische Infrastrukturen gehören internationalen Investoren, Energieversorgung ist von externen Akteuren dominiert, Schlüsselindustrien hängen an globalen Lieferketten. Jede Krisensituation verwandelt sich in einen Offenbarungseid europäischer Ohnmacht. Die Automobilindustrie verzweifelt an Mikrochip-Knappheit, die Chemieproduktion leidet unter explodierenden Energiepreisen, der Maschinenbau ist ohne asiatische Vorprodukte nicht konkurrenzfähig. Eine Verteidigung ohne industrielle Souveränität ist nichts als eine hohle Phrase.

3. Die Lektionen der Geschichte: Sicherheit beginnt in den Werkshallen

Eine Armee ohne Nachschub ist wertlos. Ein Staat ohne Produktionskapazitäten ist schutzlos. Die industrielle Basis war stets die erste und letzte Linie der Verteidigung. Wer glaubt, dass die Sicherheitsfrage sich allein militärisch klären lässt, ignoriert die harten Gesetze strategischer Ökonomie. Es war nicht nur die Rote Armee, die Hitler besiegte – es war auch die US-Rüstungsproduktion. Es war nicht nur das Schlachtfeld, das den Kalten Krieg entschied – es war der wirtschaftliche Bankrott der UdSSR. Wirtschaft entscheidet Kriege, indem sie bestimmt, wer kämpfen kann und wer nur zuschauen darf.

4. Das Versagen der politischen Klasse

Europas Regierungen agieren noch immer, als sei wirtschaftliche Sicherheit eine Frage des Wettbewerbsrechts. Doch Wettbewerb ohne Kontrolle strategischer Ressourcen führt in die Abhängigkeit. Während andere Mächte Industriepolitik als nationale Sicherheitspolitik begreifen, diskutiert Europa über bürokratische Regulierungen, die der eigenen Wirtschaft Fesseln anlegen. Die Subventionierung heimischer Produktion wird als Verzerrung des Marktes betrachtet, nicht als Schutzmaßnahme gegen systemische Verwundbarkeit. Die strategischen Fehler der Vergangenheit – von der Abhängigkeit von russischem Gas bis zur Deindustrialisierung ganzer Sektoren – werden wiederholt, solange kein Bewusstsein für die ökonomische Dimension der Sicherheitspolitik existiert.

5. Der Weg zur wirtschaftlichen Verteidigungsfähigkeit

Europa muss die Prinzipien der wirtschaftlichen Kriegsführung endlich verstehen. Es geht nicht um Autarkie, sondern um Resilienz. Das bedeutet:

  • Sicherung strategischer Industrien: Sektoren wie Mikroelektronik, Batterietechnologie und Künstliche Intelligenz müssen unter europäischer Kontrolle bleiben.
  • Diversifizierung der Lieferketten: Wer sich in eine Monokultur der Abhängigkeit begibt, wird in der Krise erpressbar.
  • Nationale Schutzmechanismen für kritische Infrastruktur: Telekommunikation, Energie, Transport und digitale Netze sind die moderne Logistik des Überlebens – ihre Kontrolle muss gewährleistet sein.
  • Investitionen in industrielle Kapazitäten: Eine Wirtschaft, die nur konsumiert, aber nicht produziert, kann keine strategische Sicherheit gewährleisten.

6. Das Diktat der Realität

Europa muss sich entscheiden: Will es eine politische Einheit sein oder nur eine Marktzone, die sich den Interessen fremder Mächte beugt? Souveränität wird nicht durch Erklärungen erlangt, sondern durch die Fähigkeit, sich selbst zu versorgen und zu verteidigen. Die Werkshalle ist das neue Schlachtfeld, die Lieferkette die neue Frontlinie, die wirtschaftliche Resilienz der wahre Maßstab von Sicherheit. Wer die Kontrolle über seine Wirtschaft verliert, verliert die Kontrolle über seine Zukunft.

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