Es gibt Wendepunkte in der Geschichte der Ökonomie, an denen Technologie nicht nur Produktionsprozesse optimiert, sondern die DNA des Marktes selbst verändert. Der dampfbetriebene Webstuhl eliminierte nicht bloß die Handarbeit, sondern formte ein neues Wirtschaftsgefüge, in dem Maschinen nicht nur Produzenten, sondern auch Taktgeber des Fortschritts wurden. Heute stehen wir vor einer ähnlich tiefgreifenden Mutation: Die künstliche Intelligenz, nicht mehr bloß eine Randerscheinung, sondern eine omnipräsente Kraft, die in die Zellen der Arbeitsmärkte eindringt.
Doch was geschieht wirklich, wenn sich Algorithmen in das ökonomische Gefüge einschreiben? Sind sie eine Erweiterung menschlicher Fähigkeiten oder ein Mechanismus der schleichenden Substitution? Eine aktuelle Studie von Handa et al. (2025) mit dem Titel „Which Economic Tasks are Performed with AI? Evidence from Millions of Claude Conversations“ liefert erstmals eine großangelegte empirische Analyse der tatsächlichen Nutzung von KI im Arbeitsmarkt. Basierend auf der Auswertung von Millionen von Konversationen mit der KI Claude zeigt die Studie, dass sich der Einsatz von KI nicht gleichmäßig über alle Branchen erstreckt, sondern sich in spezifischen Berufen konzentriert. Besonders Softwareentwicklung, Datenanalyse und Textproduktion stehen im Zentrum des Wandels.
Zwei zentrale Fragen stehen dabei im Raum: Wird KI als Assistenz genutzt – zur Ergänzung menschlicher Fähigkeiten – oder ersetzt sie menschliche Arbeit direkt?
Die Studie offenbart eine ambivalente Realität: 57 % der KI-Interaktionen erfolgen in einer augmentativen Weise, in der Mensch und Maschine symbiotisch zusammenarbeiten, während 43 % der Anwendungen auf eine direkte Automatisierung hinauslaufen. Die tiefste Integration findet dabei in kognitiven, analytischen und kreativen Berufen statt, während Berufe mit physischer Arbeit – etwa in der Medizin oder im Baugewerbe – bisher weitgehend unberührt bleiben.
Doch die Marktwirkung der KI ist nicht linear. Die Studie zeigt, dass nur 4 % der Berufe KI für mindestens 75 % ihrer Aufgaben nutzen, während immerhin 36 % der Berufe KI für mindestens ein Viertel ihrer Aufgaben einsetzen. Auffällig ist, dass vor allem Berufe im oberen Lohnsegment stark von KI profitieren, während Tätigkeiten mit geringerem Qualifikationsprofil kaum transformiert werden. Dies widerspricht klassischen Theorien der Arbeitsmarktökonomie, die davon ausgehen, dass Automatisierung zunächst einfachere Tätigkeiten betrifft, bevor sie komplexere Berufe erreicht.
KI in der Praxis: Von der Finanzbranche bis zur Industrie
In der aktuellen Diskussion über die Auswirkungen von Künstlicher Intelligenz (KI) auf den Arbeitsmarkt zeigt sich, dass KI nicht nur theoretische Konzepte, sondern bereits praktische Anwendungen in verschiedenen Branchen findet. Die Best Practice Gallery von Smarter Service bietet eine Vielzahl von Beispielen, die verdeutlichen, wie Unternehmen KI erfolgreich implementieren.
- Deutsche Familienversicherung: Automatisierung von Prozessen
Die Deutsche Familienversicherung (DFV) hat durch den Einsatz von KI ihre internen Abläufe signifikant optimiert. Durch die Implementierung von KI-Systemen können Vertragsabschlüsse innerhalb von drei Minuten durchgeführt und über die Hälfte der Schadensmeldungen innerhalb von fünf Minuten bearbeitet werden. Dies zeigt, wie KI die Effizienz steigern und gleichzeitig die Kundenzufriedenheit erhöhen kann. - Siemens: Industrielle KI als Gamechanger
Auf der CES 2025 betonte Peter Koerte, Technologie- und Strategievorstand von Siemens, die transformative Rolle der industriellen KI. Siemens nutzt digitale Zwillinge, um Produktionsprozesse zu simulieren und zu optimieren, was zu erheblichen Effizienzsteigerungen führt. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Zusammenarbeit mit dem Start-up JetZero zur Entwicklung eines treibstoffeffizienten Flugzeugs, ermöglicht durch die Simulationen von Siemens‘ digitalen Zwillingen. - Festo: Verbesserte Kundenerfahrung durch digitale Konfiguration
Festo, ein Unternehmen im Bereich der Automatisierungstechnik, hat eine moderne Weboberfläche entwickelt, die es Kunden ermöglicht, Prozessventile und andere Produkte digital zu konfigurieren. Dieses nutzerzentrierte Design verbessert das Einkaufserlebnis erheblich und zeigt, wie digitale Tools die Interaktion mit Kunden optimieren können.
Diese Beispiele verdeutlichen, dass KI bereits heute in verschiedenen Branchen erfolgreich eingesetzt wird, um Prozesse zu optimieren, die Kundenerfahrung zu verbessern und innovative Produkte zu entwickeln. Sie unterstreichen die Notwendigkeit für Unternehmen, KI als integralen Bestandteil ihrer Strategie zu betrachten, um wettbewerbsfähig zu bleiben und den sich wandelnden Marktanforderungen gerecht zu werden.
Das Paradoxon der KI-Ökonomie
Diese Entwicklungen stellen uns vor ein Paradoxon: Wenn KI vor allem dort genutzt wird, wo ohnehin schon hohe Produktivität besteht – in den kognitiv-intensiven, gut bezahlten Sektoren –, dann verstärkt sie bestehende Ungleichheiten, anstatt sie zu nivellieren. Die „unsichtbare Hand“, von der Adam Smith einst sprach, war eine Metapher für den Selbstregulierungsmechanismus des Marktes. Doch heute wird sie durch eine unsichtbare Kraft ersetzt: den Algorithmus. Und dieser folgt nicht mehr den klassischen Anreizen von Angebot und Nachfrage, sondern wird von denjenigen trainiert und kontrolliert, die ihn besitzen und einsetzen.
Die Frage ist nicht, ob KI den Arbeitsmarkt verändert – das tut sie längst. Die eigentliche Frage ist, ob diese Transformation eine neue Renaissance der menschlichen Kreativität und Produktivität einläutet oder ob sie eine technologische Enteignung der Arbeitskraft bedeutet. Die empirischen Daten aus der Studie von Handa et al. sowie die Praxisbeispiele zeigen, dass wir nicht nur auf eine technologische Revolution zusteuern, sondern auf eine wirtschaftliche Rekalibrierung, in der Arbeitsprozesse nicht mehr nur von Menschen, sondern von Netzwerken aus Maschinen gesteuert werden.
Die neue politische Ökonomie muss sich also nicht nur mit den Disparitäten befassen, die KI schafft, sondern auch mit den Machtstrukturen, die sie verstärkt. Denn eines ist sicher: Der Markt wird in Zukunft nicht mehr von sichtbaren, sondern von unsichtbaren Händen gelenkt – und diese Hände sind aus Code.