Die Aufgaben der neuen Bundesregierung in einer sich wandelnden Industriegesellschaft

von Gunnar Sohn
6. März 2025

Die deutsche Wirtschaft steht vor einer tiefgreifenden Transformation. Was oft als konjunkturelle Krise missverstanden wird, ist in Wirklichkeit eine strukturelle Neuordnung – eine Phase kreativer Zerstörung im Sinne von Joseph Schumpeter. Wie das Handelsblatt-Interview mit Hermann Simon verdeutlicht, ist eine „angemessene Deindustrialisierung“ notwendig, um Raum für innovative Industrien zu schaffen. Dies bedeutet das Ende energieintensiver und umweltschädlicher Produktionen sowie eine Konzentration auf Zukunftstechnologien.

Deindustrialisierung als strategische Notwendigkeit

Die Geschichte zeigt, dass das Festhalten an alten Industrien eine Volkswirtschaft nicht voranbringt. Die Textilproduktion und der Bergbau sind bereits aus Deutschland verschwunden, ohne dass dies langfristig geschadet hätte. Eine moderne Wirtschaftspolitik muss diesen Wandel aktiv gestalten, anstatt ihn zu bremsen. Dies erfordert den strategischen Abschied von energieintensiven Branchen wie der Stahl- und Chemieproduktion, während gleichzeitig neue Wirtschaftsfelder gefördert werden.

Ein Argument für diesen Wandel ist der Arbeitsmarkt. Trotz aktueller Strukturbrüche gibt es allein in Deutschland 530.000 unbesetzte Stellen. Die Herausforderung liegt darin, Fachkräfte aus schrumpfenden Industrien in wachsende Sektoren zu lenken. Hier muss die Bundesregierung gezielte Qualifizierungsprogramme auflegen, um den technologischen Wandel sozialverträglich zu gestalten.

Deep Tech statt Massendigitalisierung

Hermann Simon hebt hervor, dass Deutschlands wirtschaftliche Stärke nicht in massenkompatiblen Digitalprodukten wie TikTok oder Uber liegt, sondern in Deep-Tech-Anwendungen. Hidden Champions wie Trumpf, Zeiss oder Celonis liefern essenzielle Technologien für globale Industrien – von Halbleiterfertigung über Optik bis hin zu industriellen Softwarelösungen. Die Bundesregierung muss daher Rahmenbedingungen schaffen, die Deep-Tech-Innovationen fördern und Kapital in diese Sektoren lenken.

Ein gutes Beispiel ist das deutsche Engagement in der Halbleiterindustrie. Ohne die Laser von Trumpf oder die optischen Systeme von Zeiss könnte die niederländische ASML keine Hochleistungs-Chipproduktion ermöglichen. Dies zeigt, dass Deutschland in globalen Produktionsnetzwerken unverzichtbar bleibt – nicht als Hersteller einfacher Konsumprodukte, sondern als Entwickler kritischer Technologiebausteine.

Intelligente Standortpolitik

Ein weiterer Aspekt ist die Standortfrage. Deutschland leidet unter Flächenmangel für industrielle Investitionen. Wenn ein Unternehmen wie Tesla oder ein chinesischer Autozulieferer Produktionsstätten errichten will, fehlen oft geeignete Flächen. Die Bundesregierung muss daher mit Ländern und Kommunen Strategien entwickeln, um Industrieansiedlungen zu erleichtern und gleichzeitig natürliche Ressourcen zu schonen.

Zudem gilt es, eine realistische Digitalstrategie zu verfolgen. Der Versuch, in Künstlicher Intelligenz mit den USA oder China gleichzuziehen, ist zum Scheitern verurteilt. Stattdessen sollte Deutschland gezielt transatlantische Innovationsnetzwerke aufbauen und seine Stärken in der industriellen Anwendung von KI ausspielen.

Ein pragmatischer Wandel statt nostalgischer Industriepolitik

Die neue Bundesregierung muss sich von einem veralteten Bild der deutschen Industrie lösen. Made in Germany bleibt ein Qualitätssiegel – jedoch nicht für Massenproduktion, sondern für hochspezialisierte Technologien. Eine kluge Wirtschaftspolitik sollte nicht den Erhalt traditioneller Industrien erzwingen, sondern den Übergang zu neuen Wertschöpfungsmodellen aktiv begleiten.

Dazu gehören gezielte Investitionen in Deep Tech, eine Reindustrialisierung mit Fokus auf Zukunftsbranchen sowie eine moderne Bildungs- und Qualifizierungspolitik. Die Digitalisierung sollte nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern als Mittel zur Stärkung industrieller Kernkompetenzen. Die Herausforderung für die Bundesregierung ist es, diesen Wandel nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn strategisch zu gestalten.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ähnliche Beiträge

Studienband Twin Transformation
Zukunftsfähigkeit
mit Nachhaltigkeit
und Digitalisierung

 

24 Fallstudien zeigen den Weg!