Ein oft wiederholtes Narrativ in wirtschaftspolitischen Debatten lautet: „Deutschland verliert seine Industrie, weil die Energiepreise zu hoch sind.“ So auch in einem Kommentar auf X (ehemals Twitter), der sich über vermeintlich überflüssige Debatten zur „angemessenen Deindustrialisierung“ mokiert. Der Vergleich: In den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) kostet Strom nur 10 Cent pro Kilowattstunde, während in Deutschland 35 Cent fällig werden. Der implizite Vorwurf: Statt pragmatisch günstige Rahmenbedingungen zu schaffen, verliere sich Deutschland in theoretischen Konzepten.
Doch ist das wirklich die richtige Betrachtung? Ist der Strompreis das entscheidende Kriterium für den Industriestandort Deutschland? Die Antwort lautet klar: Nein.
Billiger Strom allein macht noch keine starke Wirtschaft
Es ist unbestreitbar, dass Energiepreise ein Standortfaktor sind. Unternehmen, insbesondere in energieintensiven Branchen wie der Chemie- oder Stahlindustrie, stehen unter Druck. Doch wer glaubt, dass Industrien ausschließlich wegen teurer Energie aus Deutschland abwandern, verkennt die Komplexität globaler Wertschöpfungsketten und technischer Innovationen.
Nehmen wir die VAE als Beispiel: Dort ist Strom so günstig, weil fossile Energieträger massiv subventioniert werden. Öl und Gas sind dort im Überfluss vorhanden, die Regierung hält die Preise künstlich niedrig, um ihre Wirtschaft attraktiv zu machen. Doch bedeutet das, dass die VAE ein Vorbild für eine moderne Industriepolitik sind? Ganz sicher nicht.
Denn trotz des günstigen Stroms sind die VAE keine Hochtechnologie-Nation. Es gibt dort kaum führende Maschinenbauer, keine weltmarktdominierenden Softwarefirmen und auch keine bedeutenden Unternehmen in der industriellen Automatisierung. Billige Energie hat sie nicht zum Zentrum für Hochtechnologie gemacht – im Gegenteil: Ihre Wirtschaft hängt noch immer stark vom Öl- und Finanzsektor ab.
Industrie braucht mehr als günstigen Strom
Wer sich anschaut, was die deutsche Wirtschaft erfolgreich macht, erkennt schnell: Unser Wohlstand basiert nicht auf niedrigen Produktionskosten, sondern auf technologischer Exzellenz, Qualität und Innovationskraft.
Deutschland ist führend in industriellen Dienstleistungen, Maschinenbau, Automatisierungstechnik, Optik, Halbleiterfertigung und vielen weiteren Hightech-Branchen. Ein Grund, warum die deutsche Industrie trotz hoher Energiepreise weiterhin weltweit wettbewerbsfähig ist, liegt in der starken Vernetzung von Hard- und Software, der engen Zusammenarbeit zwischen Forschung und Industrie sowie dem tiefen Verständnis für komplexe industrielle Prozesse.
Hermann Simon, einer der renommiertesten Wirtschaftswissenschaftler und Experte für Hidden Champions, spricht von einer „angemessenen Deindustrialisierung“. Doch gemeint ist keine Schrumpfung der Wirtschaft, sondern eine strategische Transformation:
Industrieunternehmen müssen ihre Produkte mit digitalen Services veredeln. Es geht nicht nur darum, Maschinen oder Bauteile zu verkaufen, sondern um das gesamte Ökosystem aus Software, Wartung, datenbasierten Dienstleistungen und Automatisierung.
Industrie und IT müssen stärker vernetzt werden. Der klassische Maschinenbau wird sich nicht über reine Hardware retten, sondern durch smarte Integration von Künstlicher Intelligenz, IoT und cloudbasierter Steuerung.
Industrielle Dienstleistungen sind das neue Wachstumsfeld. Wer heute noch auf reine Produktion setzt, läuft Gefahr, von günstigeren Standorten abgehängt zu werden. Stattdessen geht es darum, Expertise als Service zu verkaufen – vom Predictive Maintenance bis zur datengetriebenen Optimierung industrieller Prozesse.
Deutschland hat in vielen dieser Bereiche bereits eine starke Position. Doch die Herausforderung besteht darin, diesen Wandel aktiv zu gestalten, anstatt sich an überkommene Industriestrukturen zu klammern.
Energiepreise sind wichtig – aber sie sind nicht alles
Das bedeutet nicht, dass hohe Energiepreise ignoriert werden sollten. Natürlich müssen Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben. Doch die Antwort darauf kann nicht sein, den Energiepreis künstlich niedrig zu halten oder Milliarden in fossile Subventionen zu stecken.
Viel wichtiger ist eine Strategie, die folgende Punkte umfasst:
- Förderung energieeffizienter Technologien: Smarte Produktionsmethoden können den Energieverbrauch massiv senken.
- Investitionen in erneuerbare Energien und Speichertechnologien: Langfristig führt kein Weg daran vorbei, sich unabhängiger von fossilen Energieträgern zu machen.
- Gezielte Unterstützung für Unternehmen im Transformationsprozess: Besonders energieintensive Industrien brauchen eine Brücke in die Zukunft – aber nicht als Dauersubvention, sondern als Investition in neue Geschäftsmodelle.
Die Zukunft der deutschen Industrie liegt in der Transformation
Wer glaubt, dass die deutsche Wirtschaft allein durch niedrigere Strompreise wieder florieren würde, macht es sich zu einfach. Die wahre Herausforderung liegt darin, bestehende Stärken gezielt weiterzuentwickeln und neue Wachstumsmärkte zu erschließen.
Industrie 4.0, IoT, KI-gestützte Prozesse und industrielle Dienstleistungen – das sind die Felder, auf denen Deutschland auch in Zukunft erfolgreich sein kann. Die Debatte darf sich also nicht in der Forderung nach billigem Strom erschöpfen. Die wahre Frage ist: Wie gestalten wir den industriellen Wandel so, dass Deutschland auch in 20 Jahren noch ein führender Industriestandort ist?
Darauf sollte die Politik Antworten liefern – und die Wirtschaft ebenfalls.