Die Renaissance des Dual Use – Warum die Zukunft europäischer Souveränität in der Fusion von Militär und Wirtschaft liegt

von Bernhard Steimel
18. März 2025

Europa steht an einem Wendepunkt. Jahrzehntelang galt die Verteidigungsindustrie als Treiber technologischer Innovationen, als Inkubator für jene bahnbrechenden Entwicklungen, die später in den zivilen Markt diffundierten. Das Internet, GPS, Halbleitertechnologie – ihre Ursprünge reichen tief in militärische Forschungsprogramme. Doch das alte Paradigma hat sich umgekehrt. Heute sind es die kommerziellen Technologien, die den Takt vorgeben, während sich die Streitkräfte zu spät und oft nur widerwillig anpassen.

Eine zivile Drohne, ausgestattet mit Künstlicher Intelligenz, ist längst präziser und kosteneffizienter als ein Großteil des militärischen Bestands. Kommunikationssysteme wie Starlink vernetzen das Schlachtfeld mit einer Geschwindigkeit, die klassische Rüstungsprojekte nur in Dekaden realisieren könnten. Europa aber, immer noch gefangen in seiner Regulierungslogik, debattiert. Die USA handeln. China skaliert. Und während auf den transatlantischen Finanzmärkten Milliarden in Dual-Use-Technologien fließen, scheint Europa erneut Gefahr zu laufen, den entscheidenden Moment zu verpassen.

Vom militärischen Ursprung zur zivilen Adaption – und zurück

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass der Weg von der Verteidigung zur Wirtschaft, der die Technologiegeschichte des 20. Jahrhunderts prägte, nun in umgekehrter Richtung verläuft. In Israel, den USA und zunehmend auch in China werden zivile Innovationen systematisch für militärische Zwecke adaptiert. Die Logik ist zwingend: Der Privatsektor trägt die initialen Entwicklungskosten, Skaleneffekte aus kommerziellen Märkten reduzieren die Stückkosten, und am Ende profitiert der Staat von einer technologischen Agilität, die ihm klassische Beschaffungspolitik niemals erlauben würde.

Europa dagegen zögert. Dabei ist die Formel so einfach wie zwingend: Wer die Technologien entwickelt, vermarktet und integriert, die die eigenen Streitkräfte benötigen, sichert sich wirtschaftliche und strategische Vorteile. Wer auf der anderen Seite darauf verzichtet, bleibt abhängig – technologisch, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch.

Doch das Problem ist tiefer. Es ist ein strukturelles Problem. Europa hat sich ein Innovationssystem geschaffen, das keine Kriege gewinnt, sondern Wettbewerbe verliert. Während die USA mit DARPA und dem Defense Innovation Unit (DIU) ein engmaschiges Netz zwischen Technologie-Startups, Universitäten und Militär gespannt haben, wirkt die europäische Verteidigungsforschung wie ein Relikt vergangener Zeiten. Der europäische Binnenmarkt war nie für die geopolitischen Realitäten des 21. Jahrhunderts gebaut.

Der neue Wettlauf um technologische Souveränität

Dass sich nun erste Korrekturen abzeichnen, ist überfällig. Die NATO hat erkannt, dass die Innovationskraft der Startups entscheidend für die militärische Zukunft des Bündnisses sein wird. Mit dem NATO Innovation Fund steht ein Milliardenbudget für die Förderung von Deep-Tech-Startups bereit, die sowohl militärische als auch zivile Anwendungen entwickeln.

Auch die Bundeswehr hat begriffen, dass sie sich mit Gründern und Entwicklern vernetzen muss. Der Deep Tech Defense Innovation Fund (DTDIF), initiiert durch den Cyber Innovation Hub, soll gezielt europäische Verteidigungstechnologien fördern. 300 Millionen Euro sind nur der Anfang eines Finanzierungsmodells, das sich nicht mehr auf traditionelle Rüstungsunternehmen verlässt, sondern eine Brücke zwischen militärischen Anforderungen und ziviler Innovationskraft schlägt.

Doch Geld allein wird nicht reichen. Europa braucht eine fundamentale Umstrukturierung seiner Forschungslandschaft. Die alten Silos – Verteidigungsforschung hier, zivile Innovationsförderung dort – müssen aufgelöst werden. Was wir benötigen, sind Kompetenz-Cluster, die interdisziplinär arbeiten, vernetzte Forschungsökosysteme, in denen Quantencomputing, Künstliche Intelligenz und Sensorik nahtlos zwischen militärischen und zivilen Anwendungen wechseln können.

In Israel ist diese Logik seit Jahrzehnten Realität. In den USA ist sie ein wirtschaftspolitisches Mantra. In Europa aber herrscht noch immer die naive Vorstellung, man könne Hochtechnologie isoliert vom globalen Wettbewerb und frei von sicherheitspolitischen Notwendigkeiten entwickeln.

Quantencomputing, KI und Hyperschall – Europas blinde Flecken

Die entscheidenden Technologien des 21. Jahrhunderts werden nicht in europäischen Amtsstuben erfunden. Wer in die Forschungsbudgets von Google, Microsoft und OpenAI blickt, erkennt: Die technologische Zukunft wird von den Giganten des Silicon Valley geformt. Und während in den USA bereits KI-gesteuerte Waffensysteme getestet werden, debattiert Europa noch über regulatorische Hürden für Dual-Use-Produkte.

Doch es gibt Lichtblicke. In Deutschland arbeiten Helsing und Quantum Systems daran, autonome Systeme mit KI zu entwickeln. Die Bundeswehr testet erstmals, wie Quantencomputer die Logistik- und Kommunikationssysteme der Streitkräfte revolutionieren könnten.

Es ist eine neue Generation von Unternehmern, die nicht mehr in den Kategorien der alten Rüstungsindustrie denkt. Sie kommen aus der Tech-Szene, nicht aus den Waffenschmieden. Sie skalieren schneller, experimentieren freier – und sie verstehen, dass es keinen Widerspruch zwischen kommerziellem Erfolg und strategischer Relevanz gibt.

Die Zeit der Ideologie ist vorbei – Europa muss handeln

Die Realität ist brutal einfach: Wer heute nicht investiert, wird morgen keine Rolle mehr spielen. Die europäische Technologie-Souveränität entscheidet sich nicht in Ausschüssen, sondern in der Geschwindigkeit, mit der wir neue Technologien in marktfähige und verteidigungsfähige Produkte überführen.

Es braucht eine Revolution in der Denkweise. Die Hochschulen müssen aufhören, sich als reine Bildungsanstalten zu begreifen, sie müssen in den Technologietransfer getrieben werden. Startups müssen in strategische Partnerschaften mit der Industrie gebracht werden, nicht nur mit Business Angels. Die öffentlichen Fördersysteme müssen sich öffnen – nicht für die Ideen der Vergangenheit, sondern für die Technologien, die den Lauf der Geschichte bestimmen werden.

Wer heute in Quantencomputing, Künstliche Intelligenz und Hyperschall investiert, sichert sich nicht nur militärische Überlegenheit, sondern auch wirtschaftliche Dominanz. Das sind keine abstrakten Theorien, das sind die Gesetze des Marktes.

Europa hat die Wahl: Es kann sich weiterhin im Klein-Klein der Bürokratie verlieren. Oder es kann die Weichen für eine technologische Zukunft stellen, in der es nicht nur Konsument, sondern Gestalter ist. Die nächste Dekade wird zeigen, ob der Kontinent noch den Mut hat, sich zu behaupten. Die Alternative ist Abhängigkeit. Und Geschichte lehrt uns: Abhängigkeit führt immer zu Machtverlust.

Siehe auch:

Drohnen statt Panzer? Rüstungsstrategie für die Bundeswehr

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