Schüller zeigt auf, was vielen nur diffus bewusst ist: Die Rhetorik von Evidenz wird längst auch dort bemüht, wo keine echte empirische Grundlage existiert. Und sie tut das mit dem besten Werkzeug, das man in Zeiten halbwahrer Daten haben kann: Sachkenntnis. Zusammen mit den Statistikern Walter Krämer und Ralf Münnich analysiert sie Studien zur Wirkung von Lebensmittelwerbung oder zur Prävalenz von Glücksspielproblemen – im Auftrag der Industrie, ja. Aber mit wissenschaftlichen Methoden, denen sich jeder stellen kann, der möchte. Nur: Die Kritik daran bleibt oft moralisch, nicht methodisch.
Evidenz ist keine Moralinstanz
Wer den Satz „Absence of Evidence is not Evidence of Absence“ richtig versteht, erkennt: Es geht hier nicht um das Abwiegeln von Problemen, sondern um methodische Sauberkeit. Dass wir etwas (noch) nicht beweisen können, heißt nicht, dass es nicht existiert. Aber es bedeutet auch nicht, dass wir es politisch schon so behandeln dürfen, als ob es bewiesen wäre. Gerade in moralisch aufgeladenen Feldern – Kinder, Glücksspiel, Umwelt – ist diese Unterscheidung entscheidend. Wer auf dieser Basis Politik macht, darf nicht mit Bauchgefühl operieren und Statistiken zur Dekoration benutzen.
Schüller benennt das klar: Repräsentativität setzt Zufallsstichproben voraus. Selbstrekrutierte Online-Befragungen sind oft eben das Gegenteil davon. Und wer meint, solche Verzerrungen seien durch Gewichtung zu „heilen“, unterliegt einem gefährlichen Irrtum. Das ist kein Detailstreit unter Statistikern, das ist die Grundlage der Frage, ob eine Gesellschaft faktenbasiert steuert – oder nur vorgibt, es zu tun.
Der moralische Reflex ist bequem – und gefährlich
Natürlich ist es unbequem, wenn industriebeauftragte Gutachten politische Lieblingsnarrative infrage stellen. Noch unbequemer wird es, wenn sich herausstellt, dass diese Gutachten inhaltlich standhalten – und nur deshalb diskreditiert werden, weil sie „von den Falschen“ kommen. Doch genau das ist der Kern des Problems: Wissenschaft ist kein Meinungskampf, sondern ein strukturierter Zweifel. Und wenn wir beginnen, Ergebnisse danach zu bewerten, ob sie ins Weltbild passen, dann wird nicht die Industrie zum Problem – sondern unser Umgang mit Wahrheit.
Schüllers Stärke liegt im Zweifel, nicht im Dogma
Bemerkenswert ist, wie offen Schüller ihren eigenen Wertekontext benennt: Sie mag keine Spielhallen, vermeidet Zuckerzusatz und befürwortet Maßnahmen gegen Plastikmüll. Aber sie trennt sauber zwischen persönlicher Haltung und statistischer Evidenz. Genau diese Unterscheidung ist in der politischen Kommunikation oft das erste Opfer. Wenn „die gute Sache“ die Fakten verzerren darf, dann sind wir auf dem besten Weg in eine wohlmeinende Postfaktizität.
Dabei verlangt Schüller nicht, alles zu glauben, was aus Industrieaufträgen entsteht. Sie fordert nur das Naheliegende: Prüft die Methoden, statt die Absender zu denunzieren. Wer in der Sache etwas entkräften will, soll es mit Argumenten tun, nicht mit Empörung.
Evidenz ist kein Bauchgefühl – und Statistik kein Stimmungsbarometer
Der Artikel von Dr. Katharina Schüller ist ein Plädoyer für einen aufgeklärten Umgang mit Daten in der Politik. Er ist unbequem für viele – aber notwendig. In einer Zeit, in der vermeintlich „gute Absichten“ zu oft über schlechte Methodik hinwegtäuschen, erinnert sie daran, dass Fakten nicht verhandelbar sind, auch wenn die Interpretationen es sein mögen.
Ihr Buch „Daten sind Macht“ könnte zu einem Standardwerk für alle werden, die zwischen Meinung und Evidenz unterscheiden wollen – und damit ein Werkzeug für mehr demokratische Redlichkeit.
Denn wer die Statistik beugt, um Gutes zu bewirken, bewirkt am Ende nur eines: Misstrauen.