Sprechende Maschinen zwischen Täuschung und Transformation

von Gunnar Sohn
19. Mai 2025

Wenn Maschinen sprechen, erschrecken wir uns oft nicht, weil sie uns fremd sind – sondern weil sie uns zu ähnlich klingen. Eine Stimme ohne Bewusstsein, ein Gespräch ohne Erleben, ein Satz ohne Subjekt. Schon im 18. Jahrhundert irritierte ein sprechender Apparat das europäische Publikum: Wolfgang von Kempelens mechanische Sprechmaschine artikulierte Sätze wie „vous êtes mon ami – je vous aime de tout mon cœur“ oder das berühmte „Leopoldus Secundus – Romanum Imperator – Semper Augustus“. Eine Stimme aus dem Nichts.

Doch Kempelen war kein Jahrmarktstechniker. Er war ein Aufklärer. Seine Maschine sollte gehörlosen Menschen helfen, zur Lautsprache zu finden. Kommunikation, nicht Illusion, war sein Ziel. Und dennoch haftet beiden Maschinen – seiner Sprechmaschine wie dem berühmten Schachtürken – ein Moment der Täuschung an. Bei letzterem sogar wortwörtlich: Ein verborgener Mensch spielte Schach. Eine frühe Form des „Mechanical Turk“, ein Prototyp der Simulation.

Kant und die Grenze des Mechanischen

Schon Immanuel Kant erkannte: Auch wenn Maschinen noch so raffiniert gebaut sind – sie bleiben Automaten ohne Spontaneität, bar jeder Freiheit. Der Mensch hingegen sei nicht berechenbar, nicht vollständig erklärbar durch Mechanismen. Die Vernunft als letzte Bastion gegen die Maschine.

Aber ist das heute noch haltbar?

Witt: Intelligenz ohne Bewusstsein

In KI Transformation Gesellschaft geht Frank H. Witt einen entscheidenden Schritt weiter. Er verlässt die philosophische Bastion Kants, ohne sie zu zerstören – und führt uns in eine Welt, in der Intelligenz nicht mehr an Bewusstsein gebunden ist. Sprachmodelle wie GPT seien kein Versuch, den Menschen zu kopieren, sondern Ausdruck einer neuen Stufe evolutionärer Informationsverarbeitung.

Witt schreibt:

„KI ist – oder besser funktioniert als – eine Fortsetzung der Evolution über menschliches Bewusstsein hinaus.“

Maschinen wie Kempelens sprechender Apparat waren noch Nachbildungen. Heute erleben wir Entkopplung: Intelligenz entsteht in Systemen, die keinen Erlebnishintergrund, kein Ich-Bewusstsein, keine moralische Innenperspektive besitzen – aber dennoch agieren, analysieren, sprechen.

Und genau darin liegt die heutige Kempelen-Metamorphose: Was damals ein mechanischer Phonetik-Versuch war, ist heute ein statistisch getriebenes Sprachuniversum. Die Maschine versteht nicht – sie funktioniert. Und sie funktioniert oft besser als wir selbst.

Vom Schachtürken zum Prompt Engineer

Die Ironie der Geschichte: Die Täuschung beim Schachtürken war physisch – ein Mensch versteckte sich in der Maschine. Heute ist die Täuschung semantisch – wir verstecken Maschinen hinter der Sprache. Witt zeigt, dass viele Startups genau damit operieren: scheinbare KI-Systeme, die durch Prompt Engineering oder Human-in-the-Loop Verfahren nur so tun, als seien sie autonom.

Alan Turing erkannte das bereits 1950 in einem seiner wenigen historischen Verweise, als er Kempelens Schachtürken als ironischen Vorläufer künstlicher Intelligenz bezeichnete. Der Turing-Test selbst basiert ja auf Täuschung: Wenn wir den Unterschied nicht merken, spielt er dann noch eine Rolle?

Witt antwortet: Doch. Denn Kontext ist keine Rechenleistung. Bedeutung ist nicht gleich Korrelation. Und das Menschliche lässt sich nicht in Wahrscheinlichkeitsräume auflösen. Zumindest nicht ohne Nebenwirkungen.

Das neue Verhältnis von Mensch und Maschine

Was bleibt vom Menschen, wenn Maschinen sprechen? Kempelen wollte Verständigung ermöglichen. Witt fordert ein neues Paradigma: hybride Intelligenz – Systeme, in denen Mensch und Maschine kooperieren, ohne sich zu verwechseln. Der Mensch bleibt Träger von Verantwortung, Bedeutung und Zielorientierung. Die Maschine hingegen ist ein Werkzeug auf einer höheren, emergenten Stufe evolutionärer Informationsverarbeitung.

Der alte Anspruch von Joseph Weizenbaum – „Mein Ausgangspunkt ist der Mensch“ – bleibt gültig. Aber er muss ergänzt werden: Der Mensch ist nicht mehr alleiniger Ausgangspunkt – sondern Teil eines größeren Systems, das sich mit ihm entwickelt.

Vom Sprachautomaten zur Sprachverflüssigung

Die sprachlichen Wunderapparate von einst – ob mechanisch oder digital – stellen letztlich immer dieselbe Frage: Was bedeutet Verstehen? Ist es die Rekonstruktion grammatikalischer Muster? Oder das Eingebundensein in ein leibliches, soziales und historisches Leben?

Frank H. Witt und Wolfgang von Kempelen trennt mehr als zwei Jahrhunderte – und doch verbindet sie ein Gedanke: Technik ist nie neutral. Sie ist ein Spiegel dessen, was wir für Kommunikation, Intelligenz und Menschlichkeit halten.

Kempelen baute eine Maschine, um Menschen zu helfen. Heute müssen wir Maschinen bauen, damit Menschen Mensch bleiben können. Die Zukunft der KI entscheidet sich nicht an der Qualität ihrer Sätze – sondern an der Tiefe unseres Begriffs vom Menschsein.

Exkurs: Vom mechanischen Mund zur vernetzten Stimme – Eine kleine Geschichte des Ökosystems

Kempelens Sprechmaschine war nicht nur ein technisches Artefakt – sie war eine Frühform eines semantischen Knotenpunkts. Eine Stimme, die nicht aus einem Kehlkopf kam, sondern aus einer architektonischen Ordnung von Blasebalg, Rohr und Resonanzkörper. Man könnte sagen: eine frühe Topologie des Sprechens. Heute sind solche Knotenpunkte in andere Gewebe eingebettet – nicht mehr in Leder, Messing und Holz, sondern in Glasfasern, Algorithmen und Plattformen. Doch das Ziel ist ähnlich geblieben: Kommunikation über Entfernungen, zwischen Entitäten, die sich sonst nicht verstehen könnten.

In der Telekom-Studie heißt es:

„Ein Produkt ist längst nicht mehr nur ein Gegenstand. Es sieht, hört, fühlt. Es sammelt Daten, erkennt Muster, trifft Entscheidungen. Es ist Teil eines Netzwerks.“

Das hätte auch Kempelen unterschrieben – wenn auch mit anderem Vokabular. Sein mechanischer Mund verstand sich nicht als autonomes Wunder, sondern als Glied in einem pädagogischen Ökosystem – ein sprechender Tutor, kein Orakel. Die heutigen Smart Connected Products hingegen sind eingebettet in Plattformen, die nicht nur sprechen, sondern zuhören, reagieren, monetarisieren. Der Mund ist längst zur API geworden.

Die moderne Ökosystemlogik hat das Einzelprodukt verlassen. Was zählt, ist nicht mehr das Artefakt, sondern das Arrangement. Oder, wie es Hannes Händel im Prolog der Studie formuliert:

„Es geht nicht mehr nur um Herstellung und Verkauf, sondern um die Kunst, Beziehungen zwischen Dingen und Menschen zu orchestrieren.“

Was früher als Täuschung galt – der heimlich an Schalthebeln agierende Schach-Großmeister – wird heute zur Basis des Wirtschaftens: simulative Interaktion, orchestrierte Kommunikation, synthetisches Verhalten. Es ist ein neuer Maschinenbegriff entstanden, den Frank H. Witt als „funktionale Intelligenz ohne Bewusstsein“ beschreibt. Und zugleich ein neuer Begriff von Gesellschaft, in der Dinge nicht mehr Objekte, sondern Mitspieler sind.

Was also ist der Unterschied zwischen Kempelen und uns? Vielleicht der, dass wir heute in einer Welt leben, in der nicht mehr der einzelne Automat spricht, sondern das Ökosystem selbst – ein sprechendes Netzwerk, das nie ganz verstummt. Wo früher ein Fürst dem Apparat lauschte, lauscht heute das System dem Nutzer – nicht aus Höflichkeit, sondern zur Optimierung von Verhalten, Verbrauch und Wertschöpfung.

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