Die schöpferische Unschärfe – Warum das Arbeitsvolumen keine statische Größe ist

von Gunnar Sohn
22. Mai 2025

In Zeiten verunsicherter Prognostik und überdehnter Demografie-Argumente erlebt eine altmodisch geglaubte Einsicht eine stille Renaissance: Die Volkswirtschaft ist ein lebendiges Gebilde, das sich dem Reißbrett verweigert. Wer versucht, ihre Zukunft in Diagrammen zu fixieren, wird stets von den unberechenbaren Seiten der Dynamik überrollt. Das gilt besonders für das Arbeitsvolumen – jenen Indikator, der still im Schatten großer Debatten um Kapitalmärkte, Deglobalisierung und Energiepreise agiert, aber mehr über die inneren Verhältnisse einer Volkswirtschaft verrät als jede Inflationsrate.

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Die Projektionen des Sachverständigenrats zur Entwicklung der Arbeitszeit zeigen exemplarisch, wie unsicher das Terrain ist, auf dem ökonomische Vorausschau operiert. Was im Frühjahrsgutachten 2024 als rückläufig prognostiziert wurde, muss im Folgejahr revidiert werden: plötzlich ein positiver Beitrag zum sogenannten Potenzialwachstum, wo vorher Schrumpfung vorhergesagt war. Der vermeintliche Trend wird zur Schleife, die Prognose zum Prisma, durch das sich wirtschaftlicher Wandel als kontingent und formbar erweist.

Potenzialwachstum – das ist die Wachstumsgeschwindigkeit einer Volkswirtschaft unter Vollauslastung ihrer Produktionsfaktoren, ohne neue Überhitzung. Es ist die hypothetische Grenze dessen, was eine Volkswirtschaft nachhaltig leisten kann, ohne Inflation zu erzeugen. Bestimmt wird es maßgeblich durch drei Größen: Arbeitsvolumen, Kapitalstock und Produktivität. Wenn einer dieser Faktoren wächst, steigt das Potenzialwachstum – wenn nicht, stagniert es. Der Beitrag des Arbeitsvolumens ist dabei besonders politisch beeinflussbar.

Der Beitrag der Arbeitszeit zur gesamtwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ist kein Naturgesetz. Er ist Resultat institutioneller Ordnung, kultureller Haltung und politischer Gestaltung. Die Annahme, dass mit dem Abgang der Babyboomer das verfügbare Arbeitsvolumen zwangsläufig sinkt, ist bequem – aber analytisch träge. Sie verkennt, dass Erwerbsverhalten kein mechanischer Reflex auf Geburtsjahrgänge ist, sondern durch Steuerpolitik, Rentenrecht, Migration, Bildung und technologische Innovation ständig moduliert wird. Wer sich hier auf demographische Mechanik beruft, stellt das Fließband wieder auf – aber diesmal für Argumente.

Wie politisch formbar das Arbeitsvolumen tatsächlich ist, zeigt ein Beispiel aus der Praxis: der Fachkräftemangel in der Radiologie, diskutiert auf der Zukunft Personal Nord in Hamburg. Marcel Apel vom Kernspinnzentrum Hamburg beschreibt dort eindrücklich, wie gut ausgebildete Radiologiefachkräfte aus dem Ausland systematisch ausgebremst werden – nicht durch mangelnde Kompetenz, sondern durch ein bürokratisches Anerkennungssystem, das die Realität der Qualifikationen ignoriert. Bachelor- und Masterabschlüsse aus EU-Ländern werden mit deutschen Ausbildungsinhalten verglichen – und selbst bei minimalen Abweichungen zur vollständigen Nachqualifizierung verdonnert. Das Ergebnis: Menschen mit überdurchschnittlicher Qualifikation bleiben außen vor, obwohl sie dringend gebraucht würden.

Man verweigert dem Arbeitsmarkt seine eigene Erweiterung. Nicht die Demografie verknappt das Arbeitsvolumen – es sind Anerkennungsverfahren, Regulierungslücken und fehlende digitale Infrastruktur, die dafür sorgen, dass vorhandene Arbeitskraft ungenutzt bleibt. Dabei gäbe es längst technische und organisatorische Mittel: Remote Scanning, digitale Weiterbildung, KI-gestützte Assistenzsysteme. Doch was technologisch möglich ist, wird administrativ blockiert.

Das Arbeitsvolumen wächst nicht, weil es wachsen „muss“. Es wächst, weil unter den Bedingungen der Zeit neue Erwerbslogiken entstehen: Menschen bleiben länger im Beruf, Erwerbsunterbrechungen verkürzen sich, Teilzeitmodelle werden flexibilisiert, Migration wirkt kompensierend – nicht als demografischer Notnagel, sondern als produktiver Impuls. All das ist keine Gewissheit, sondern eine politische Möglichkeit.

Die Wirtschaft lebt nicht von Gleichgewicht, sondern von bewegter Unruhe. In dieser Unruhe liegt der Schlüssel, die Dämpfung der Produktivitätsentwicklung seit 2018 nicht als Stillstand zu deuten, sondern als Zwischenzeit, in der alte Modelle sich entwerten und neue noch keinen Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit erheben konnten. Wer jetzt nur auf Förderprogramme für strukturschwache Regionen setzt, hält das Alte am Leben, anstatt dem Neuen zum Durchbruch zu verhelfen.

Es braucht nicht mehr staatlichen Dirigismus, sondern eine Wirtschaftspolitik, die unternehmerische Entdeckung und produktive Irrtümer zulässt. Das heißt: weniger Lenkung, mehr Resonanzräume für Ideen, die heute noch wie Abweichung wirken, morgen aber Standard sein könnten. Der Schlüssel liegt nicht in der administrativen Ausweitung bestehender Programme, sondern in der klugen Reduktion dessen, was Innovation verhindert.

Die Projektionen des Sachverständigenrats – mit ihren Korrekturen, Divergenzen und Neuschätzungen – sind kein Beweis der Schwäche, sondern ein lebendiger Beleg für den Charakter wirtschaftlicher Zukunft: Sie ist offen. Und in dieser Offenheit liegt eine Möglichkeit, nicht ein Risiko.

Wer also das Arbeitsvolumen für verloren erklärt, weil sich die Demografie wandelt, verwechselt Statistik mit Schicksal. Und wer die Strukturkrise seit 2018 nur als Verfallssymptom deutet, übersieht den Möglichkeitsraum, der in jeder Phase der Unsicherheit keimt.

Inmitten der scheinbaren Dämpfung liegt das kreative Prinzip verborgen:
Das Arbeitsvolumen ist nicht gegeben – es wird erzeugt. Immer wieder. Immer neu.

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