Von der Konstruktion vernetzter Raum-Zeit-Datenräume im Dienste geostrategischer Entscheidungsfähigkeit
Der Plenarsaal des Alten Bundestages, ein Ort historischer Rhetorik und politischer Gravitation, wurde beim diesjährigen AFCEA-Anwenderforum zur Bühne einer stillen epistemologischen Revolution: Professor Dr. Peter Baumann, Informatiker und Systemarchitekt an der Constructor University Bremen, entfaltete in einem Vortrag von hoher methodischer Dichte und praktischer Anschaulichkeit die Logik einer Infrastruktur, die unsere Vorstellung von Datenverarbeitung im sicherheitskritischen Kontext grundlegend verschiebt.
Baumanns Thema: föderierte, interoperable AI-Cubes – standardisierte, multidimensionale Datenwürfel, deren semantische Strukturiertheit, ortsunabhängige Föderation und Cloud-Edge-Integration die Grundvoraussetzung dafür liefern, dass aus der Masse von Erdbeobachtungsdaten, Wettersimulationen oder sensorischen Echtzeitinputs operative Einsichten werden.
Der Grundtatbestand: Datenwachstum jenseits menschlicher Repräsentation
Die Zahlen allein markieren das Problemfeld: Die ESA speichert heute über 34 Petabyte an Satellitendaten, mit einer Zielmarke von 80 Petabyte in naher Zukunft. Das Europäische Zentrum für mittelfristige Wettervorhersage verwaltet über 250 Petabyte. Klassische Datenarchitektur – millionenfach fragmentierte NetCDF- oder HDF-Dateien – zerfällt unter dieser Last zur reinen Lagerhaltung. Baumanns Analyse: „Wir haben sehr viele Daten. Aber wir sind nicht dran.“
Was fehlt, ist semantische Zugriffsfähigkeit – nicht der Download aller Daten, sondern die gezielte Antwort auf eine präzise formulierte Anfrage: Was war die Windstärke in 10.000 Fuß über Riga gestern um 14:00 Uhr? Die Lösung: ein abfragbares, indexiertes, standardisiertes Raum-Zeit-Kontinuum, das als multidimensionaler Datenwürfel organisiert ist.
Vom Tabellenparadigma zur multidimensionalen Semantik
Das Rückgrat dieser Transformation bildet die von Baumann entwickelte und mitgeprägte Erweiterung des ISO-SQL-Standards um Teil 15: Multi-Dimensional Arrays (MDA). Sie erlaubt relationale Abfragen nicht nur auf eindimensionalen Datentabellen, sondern auf kontinuierlichen vier- oder fünfdimensionalen Raum-Zeit-Modellen. Jeder Datenwürfel enthält explizit benannte Achsen (Länge, Breite, Höhe, Zeit, Spektrum), deren semantische Strukturen maschinell interpretierbar sind.
Diese semantisch durchdrungene Datenstruktur ist nicht nur effizient – sie ist notwendig, um komplexe Operationen wie Datenfusion (z. B. die Verschneidung von Sentinel-2-Aufnahmen mit digitalen Höhenmodellen) in Echtzeit automatisiert durchzuführen. Genau dies demonstrierte Baumann in seiner Live-Demo: Farbspektren wurden live justiert, Bilddaten semantisch dekonstruiert, Fusionsergebnisse visualisiert – kein Code, kein Export, keine Umformatierung.
Föderation als Prinzip: Ortstransparente Datenräume
Die Innovation reicht tiefer. Baumanns System vermeidet redundanten Datentransfer und zentralisierte Datensilos, indem es Anfragen an verteilte Datenwürfel föderierter Server verschickt. In einem konkreten Beispiel reiste eine Query von Bonn nach Kiel, wurde dort partiell beantwortet, und der fehlende Rest wurde aus einem Würfel bei Warschau ergänzt. Ergebnis: keine Dateiübertragung, kein Download. Nur: Antwort.
Diese Ortstransparenz ist mehr als eine technische Raffinesse – sie ist ein architektonischer Imperativ für resiliente Systeme. Denn was föderiert ist, hat keinen Single Point of Failure. Was standardisiert ist, ist anschlussfähig. Was semantisch strukturiert ist, ist automatisierbar.
KI als eingebettete Diensteschicht
Statt neue Modelle zu trainieren, bindet das System bestehende KI-Modelle als Funktionen innerhalb des Datenwürfelsystems ein. Damit werden etwa Landnutzungsklassifikationen direkt auf Anfrage mitgeliefert – nicht als Blackbox-Ergebnis, sondern als dokumentierte, parametrisierbare Services.
Die Architektur ist plattformoffen. Kommerzielle und staatliche Systeme, Low-Power-Endgeräte (wie ein Raspberry Pi in einer Drohne) und Hochleistungsrechenzentren können gleichermaßen anfragen und antworten. Selbst orbitale Edge-Geräte wurden bereits integriert – ein Hinweis auf den bevorstehenden Aufbau föderierter Weltraumdaten-Infrastrukturen jenseits transatlantischer Plattformabhängigkeiten.
Konsequenz: Der digitale Generalstab braucht semantische Geometrie
Wer Geoinformationen lediglich als PDF-Overlay oder proprietären Layer in ArcGIS begreift, hat bereits verloren. In sicherheitskritischen Domänen – von GEOINT bis FMN (Federated Mission Networking) – entscheidet nicht mehr die Sensorik, sondern der Zugriff auf korrekt strukturierte, automatisiert nutzbare Datenräume.
Der Vortrag Baumanns war ein Beispiel für das, was man selten erlebt: eine Demonstration deutscher Innovationskraft, nicht als Rhetorik, sondern als Funktion. Eine Architektur, die wissenschaftlich durchdrungen, operativ erprobt und strategisch anschlussfähig ist. Wer militärische Resilienz denkt, muss hier beginnen: Bei der Geometrie des Digitalen.
Denn wie Baumann – ganz ohne Pathos – zeigt: Nur wer weiß, was er wo weiß, kann entscheiden, was er tun muss.
Die AI-Cubes sind nicht Produkt, sondern Prinzip. Sie verkörpern jene Form technischer Klarheit, in der sich die Trennung zwischen wissenschaftlichem Denken und operativer Relevanz aufhebt. Ein Plädoyer für semantische Interoperabilität als Grundlage europäischer Techniksouveränität.