Rheinmetalls neue Logik der Gefechtsführung #AFCEA #Bonn

von Gunnar Sohn
28. Mai 2025

Es war die bestbesuchte Session im Plenarsaal des alten Bundestags am ersten Tag des AFCEA-Fachforums: Timo Haas, Chief Digital Officer von Rheinmetall, präsentierte ein Lagebild der digitalen Kriegführung, das ebenso nüchtern wie technisch präzise war. Kein Pathos, kein martialischer Gestus – dafür ein hochverdichteter Vortrag über Echtzeitverarbeitung, Sensorfusion, Cloud-Edge-Integration und taktische Autonomie im Gefecht.

Was Haas präsentierte, war keine ferne Zukunftsvision, sondern eine sich konkret abzeichnende Realität: Der Kampf der Systeme wird zum Kampf der Datenarchitekturen. Wer sie dominiert, entscheidet über Sichtbarkeit, Schnelligkeit und Schlagkraft.

Die Linie des Sehens: Daten sind Waffen

Im Zentrum steht der Informationsvorsprung. Rheinmetall denkt nicht mehr in einzelnen Plattformen, sondern in durchvernetzten Sensor- und Effektorenclustern. Diese „Line of Sight“, die Linie des Sehens, wird mit Aufklärungstechnologien gestützt, die heute schon in der Lage sind, mehrere Kilometer breite Areale gleichzeitig zu erfassen, zu analysieren und zu bewerten – in nahezu Echtzeit.

Ziel ist es, den sensorischen Raum mit dem effektiven Raum zu koppeln. Der Schütze muss nicht mehr selbst sehen, um zu treffen. Stattdessen wird das Zielbild durch KI-gestützte Systeme erzeugt, übermittelt und automatisch mit verfügbaren Wirkmitteln verknüpft. Der klassische „OODA-Loop“ (Observe, Orient, Decide, Act) wird dadurch nicht obsolet – er wird massiv beschleunigt.

Menschliche Präsenz im digitalen Raum

Wird der Mensch dabei abgeschaltet? Mitnichten. „Der Mensch wird nicht ausgeschaltet – er wird taktisch neu verortet“, so könnte man die neue Gefechtsphilosophie zusammenfassen. Anstelle der direkten Steuerung tritt Supervision, an die Stelle individueller Intuition eine KI-gestützte Situationsbewertung.

Haas betonte, dass Rheinmetall dabei großen Wert auf adaptive Systeme legt – Systeme, die nicht nur automatisiert, sondern auch rekonfigurierbar sind. Das bedeutet: Der Operator wird nicht ersetzt, sondern mit besseren Entscheidungsgrundlagen ausgestattet. Die finale Entscheidung über tödliche Wirkung bleibt menschlich – aber vorbereitet durch maschinelle Präzision.

Autonomie im Schwarm

Besonders eindrucksvoll war die Vorstellung des „autonomen Schwarms“: Kleine, kostengünstige Einheiten agieren dezentral, stimmen sich untereinander ab und führen Aufklärungs- oder Störaktionen selbstständig aus. Ein System, das Redundanz und Resilienz in den Mittelpunkt stellt. Es ist weniger anfällig für zentrale Ausfälle, kann sich selbst reorganisieren und Gegner überfordern – nicht durch Feuerkraft, sondern durch Komplexität.

Diese Schwarmintelligenz folgt keinem hierarchischen Befehlssystem, sondern einem Bottom-up-Prinzip: Jedes Element trifft Entscheidungen auf Basis der eigenen Wahrnehmung und eines gemeinsam trainierten Verhaltensmodells.

Die neue Rüstung ist Software – und offen

Was früher tonnenschwere Stahlkolosse bedeutete, sind heute Container voller Code. Rheinmetall begreift sich inzwischen ebenso als Softwareunternehmen wie als Rüstungshersteller. Und das ist kein PR-Kalkül, sondern industriepolitischer Ernstfall. Denn der Wettbewerb in der Verteidigung wird künftig nicht mehr nur auf dem Gefechtsfeld, sondern auch in den Rechenzentren entschieden.

Dabei ist entscheidend: Die digitale Plattform, auf der diese Systeme operieren, wird offen gestaltet. Applikationen verschiedener Hersteller sollen integrierbar sein – eine Architektur, die Interoperabilität ermöglicht und Innovation beschleunigt. Wer neue Lösungen entwickeln kann, soll sie anschließen dürfen – ohne proprietäre Barrieren.

Es geht nicht mehr nur um Panzer, sondern um Plattformen. Nicht um Waffen, sondern um Datenintegration. Timo Haas hat gezeigt, dass die Rüstungsindustrie auf dem Sprung ist – nicht nur technologisch, sondern auch strategisch.

Die Nachricht aus dem Plenarsaal: Die Zukunft des Gefechts ist digital. Und sie beginnt nicht irgendwann. Sondern jetzt.

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