Thomas Ramge und Rafael Laguna de la Vera beschreiben Europa als den Nachtisch bei einem strategischen Abendessen zwischen Trump, Putin und Xi. Ihre Analyse ist pointiert, ihre Sorge um Europas geopolitische Lage berechtigt – und ihre Forderung nach einem selbstbewussten, souveränen Europa durchaus richtig. Doch was bedeutet das konkret für Deutschland? Was bedeutet es für eine Volkswirtschaft, deren Lebenselixier globale Verflechtung ist?
Wer jetzt laut nach Westbindung ruft, dem sei entgegnet: Souveränität ist kein romantisches Bekenntnis, sondern eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit. Deutschland lebt nicht vom Pathos, sondern vom Präzisionsgetriebe, vom Maschinenexport, von der Feinabstimmung der Lieferketten zwischen Shenzhen, San José und Schwäbisch Gmünd. Und gerade weil das so ist, muss man vorsichtig sein, wenn politische Lagerdenken in wirtschaftliches Handeln diffundiert.
Hermann Simon bringt das nüchtern auf den Punkt: Die USA bleiben zentral – als Markt, als Technologiemotor, als Investitionsstandort. Doch gleichzeitig ist China für viele deutsche Unternehmen längst nicht mehr Zusatz, sondern Existenzgrundlage. Wer meint, hier ließen sich Wahlentscheidungen treffen wie an der Edeka-Kasse, verkennt die Realität: Es geht nicht um Entweder-Oder – sondern um kluges Sowohl-als-auch.
Ramge und Laguna wollen Europa wachrütteln. Das ist verdienstvoll. Doch aus dem Weckruf darf keine Selbstüberforderung werden. Der Appell zur europäischen Wehrhaftigkeit in Rüstung, Kapitalmarkt und Innovationspolitik ist richtig – aber er ersetzt nicht die notwendige Vorsicht im geopolitischen Spiel der Kräfte. Wer sich vorschnell auf die eine Seite schlägt, riskiert auf der anderen Seite den wirtschaftlichen Totalschaden. Das ist kein Zynismus, sondern Realität.
Deshalb sollte Deutschland nicht in die Loyalitätsfalle tappen. Es braucht eine Strategie, die Eigenständigkeit nicht als Abgrenzung versteht, sondern als Fähigkeit zur multipolaren Anschlussfähigkeit. Direktinvestitionen in den USA, technologische Partnerschaften mit Asien, resilientere Lieferketten in Europa – das sind keine Ausflüchte, sondern Standortpolitik im 21. Jahrhundert.
Die Hidden Champions machen es vor: Rechtlich unabhängige Einheiten auf drei Kontinenten, kulturelle Anpassungsfähigkeit ohne Identitätsverlust, Marktorientierung statt Moralüberhöhung. Das ist kein Ausverkauf europäischer Werte – sondern deren Sicherung unter realen Bedingungen. In diesem Sinne wäre es fatal, Europa geopolitisch auf den Dessertteller zu legen – aber es wäre ebenso fatal, wirtschaftlich nur noch auf Selbstversorgung zu setzen.
Was es jetzt braucht, ist keine weitere Symbolpolitik. Sondern ökonomisches Augenmaß, außenpolitische Balance – und der Mut zur strategischen Mehrgleisigkeit. Wer das als Schwäche auslegt, hat die Weltwirtschaft nicht verstanden. Und wird bald feststellen, dass man aus einem moralisch reinen Gewissen keine Getriebeteile fräsen kann.