Die Rückkehr des Übersehenen
Die Ökonomie war lange Zeit risikofixiert. Der Begriff Resilienz fristete ein Nischendasein – allenfalls als Vokabel der Psychologen oder Katastrophenforscher. Dabei eröffnet er einen grundlegend anderen Blick auf Ordnung, Wandel und Steuerungsfähigkeit in einer zunehmend fragilen Welt. Wer sich mit den institutionellen Debatten der letzten Jahre beschäftigt, spürt: Etwas verschiebt sich. Es reicht nicht mehr, nur auf Effizienz und Risiko zu schauen. Die Fähigkeit, Rückschläge zu verkraften und daraus gestärkt hervorzugehen – das wird zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor, zum Schlüsselbegriff wirtschaftlicher Zukunftsfähigkeit.
Jenseits von Risiko und Robustheit
Diese Einsicht ist nicht neu, aber nun theoretisch ausbuchstabiert: In einem Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin hat Markus K. Brunnermeier den Begriff der Resilienz neu kartiert. Dabei grenzt er ihn klar ab – nicht nur vom Risiko, sondern auch von der Robustheit. Risiko zu managen heißt: Wahrscheinlichkeiten abschätzen, Streuung optimieren, Varianz minimieren. Robustheit meint: Systeme so bauen, dass sie selbst unter Extrembedingungen nicht versagen. Resilienz hingegen ist dynamisch. Sie zielt auf Rückfederung. Nicht Vermeidung, sondern Überwindung. Sie ist das Schilfrohr im Sturm, nicht die Eiche.
Überforderte Systeme im Effizienzregime
In der wirtschaftlichen Praxis fehlen jedoch genau diese Strukturen: Mechanismen, die nicht auf starre Abwehr setzen, sondern auf lernfähige Reaktion. Die Studien des Smarter Service Instituts zeichnen ein klares Bild. Ob Lieferketten, digitale Dienste oder Bildungssysteme – überall zeigt sich das gleiche Muster: Redundanzen wurden aus Effizienzgründen abgebaut, Reserven als überflüssig diskreditiert, Diversität funktional eingeebnet. Es herrscht ein Verständnis von Steuerung, das auf linearen Input-Output-Logiken beruht – nicht auf kybernetischen Rückkopplungen oder systemischer Lernfähigkeit. Die Folge: Schocks führen nicht mehr zu Erschütterungen, sondern zu Zusammenbrüchen.
Resilienzdiversifikation statt Planwirtschaft
Dabei wäre die Rückkehr zum Denken in Pufferzonen und Spannungsabbau kein Rückschritt, sondern eine Modernisierung ordnungspolitischer Konzepte. Brunnermeier spricht von Resilienzdiversifikation – einer Risikostreuung nicht zur Volatilitätsminderung, sondern zur Reaktionsfähigkeit. Es geht nicht darum, alles gleichzeitig zu fahren. Sondern darum, Alternativen bereit zu halten, die sich im Fall eines Ausfalls schnell hochfahren lassen. In der Praxis bedeutet das: modulare Plattformen, verteilte Verantwortlichkeiten, adaptive Entscheidungsroutinen. Das Gegenteil von Top-down-Zentralismus oder starren Prozessketten.
Die unsichtbare Ungleichheit
Noch gravierender sind die gesellschaftlichen Implikationen. Denn Resilienz ist ungleich verteilt. Zwei Menschen mit gleichem Einkommen und gleichem Bildungsstand – der eine kann sich nach einem Rückschlag erholen, der andere nicht. Diese Resilienzungleichheit ist bislang kaum erforscht, aber sie prägt Biografien, Milieus und Lebensverläufe – und wird zur Quelle langfristiger ökonomischer Ungleichheit. Wer sich keine Fehler leisten kann, geht keine Risiken ein. Und wer keine Risiken eingeht, partizipiert nicht an den Chancen des Wandels. So wächst ein Resilienzgefälle, das am Ende wirtschaftliche Teilhabe unterminiert.
Institutionelle Vorbereitung auf das Ungewisse
Institutionen müssen darauf reagieren. Nicht mit flächendeckender Sicherheit, sondern mit Strukturen, die Rückschläge abfedern, ohne individuelle Verantwortung zu lähmen. Resilienz ist kein Versorgungsversprechen – sie ist die Ermöglichung zur Selbstkorrektur. Das gilt auch für die staatliche Ordnung selbst. Eine resiliente Wirtschaftspolitik fördert nicht nur Wachstum, sondern auch Agilität. Sie denkt in Szenarien, nicht in Prognosen. Sie testet, simuliert, lässt kleine Fehler zu, um große Katastrophen zu vermeiden. Ihre Metapher ist nicht das Uhrwerk, sondern das Ökosystem.
Das Paradox der globalen Abschottung
Was heißt das für globale Strukturen? Auch hier zeigt sich ein gefährlicher Kurzschluss: Je stärker Staaten versuchen, sich durch nationale Resilienz abzusichern, desto brüchiger wird die globale Ordnung. Resilienz wird zur Ausstiegsstrategie aus multilateraler Kooperation. Dabei sind viele Probleme – von Pandemien bis Lieferketten – nur gemeinsam zu lösen. Brunnermeier spricht vom Paradoxon der globalen Resilienz: Je mehr jeder für sich resilient wird, desto weniger ist es die Welt als Ganzes. Gemeinsame Puffer wären effizienter – politisch aber schwer durchsetzbar. Eine Frage nicht der Technik, sondern des Vertrauens.
Eine neue Ordnung des Wirtschaftens
Gerade deshalb braucht Resilienz eine neue politische Kultur. Nicht als Schlagwort, sondern als tiefgreifende Steuerungsidee. Sie verlangt epistemische Demut, wie sie in Brunnermeiers Vortrag immer wieder aufblitzt. Resilienz akzeptiert Nichtwissen – und rüstet sich genau dafür. Sie verabschiedet sich vom Plan als Totalmodell und setzt auf vorbereitete Improvisation. In Unternehmen, Verwaltungen und Volkswirtschaften. Nicht das starre Regime ist die Antwort auf eine instabile Welt, sondern die Fähigkeit zur intelligenten Anpassung. Der Mut zum Innehalten, zur Kurskorrektur, zur kooperativen Reserve.
Resilienz ist kein modischer Begriff, sondern ein neues Paradigma. Sie ersetzt nicht die Ordnung – sie macht sie zukunftsfähig. Wer heute Wirtschaftspolitik denkt, ohne Resilienz mitzudenken, betreibt Modellpflege im Maschinenraum eines brennenden Schiffes. Die neue Ordnung entsteht nicht im Masterplan, sondern im Zusammenwirken von vielen, die bereit sind, sich zu beugen – um nicht zu brechen.
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