Wenn Ordnung zur Einnahmequelle wird, gerät das Vertrauen ins Wanken. Was einst der Gefahrenabwehr diente, scheint sich zu einem perfiden Spiel zwischen Kasse und Kontrolle zu entwickeln. Die Aussagen von Felix Müller-Baumgarten, Fachgebietsleiter Verkehrsrecht beim Auto Club Europa (ACE), treffen in ihrer Klarheit einen Nerv.
„Eine solche Gefahr ist leider real“, sagt Müller-Baumgarten auf die Frage, ob fiskalische Interessen ordnungspolitische Ziele verdrängen könnten. Und er warnt vor einer schleichenden Metamorphose des Staates: „Dies darf natürlich nicht zu einer Art mittelalterlichem Raubrittertum führen, indem Verkehrsteilnehmende um jeden Preis mit Bußgeldern belegt werden.“ Das ist mehr als ein Seitenhieb – es ist eine systemische Warnung.
Tatsächlich ist die Sorge nicht unbegründet. Im offiziellen Haushaltsplan 2025/26 der Bundesstadt Bonn finden sich unter der Rubrik „öffentlich-rechtliche Leistungsentgelte“ über 250 Millionen EuroGesamtplan. Darin enthalten: auch die Einnahmen aus der Überwachung des ruhenden und fließenden Verkehrs – explizit benannt als Maßnahme im städtischen Konsolidierungspaket. Auf der Website der Stadt heißt es wörtlich: „Darüber hinaus sollen im Dezernat Allgemeine Verwaltung, Digitalisierung und Ordnung Mehreinnahmen erzielt werden, z. B. aus der Überwachung des ruhenden und fließenden Verkehrs.“ Quelle: bonn.de, Dez. 2024
Was hier nüchtern als „Mehreinnahme“ erscheint, wird zur haushaltspolitischen Wette auf das Fehlverhalten von Bürgern. Jens Gnisa, ehemaliger Vorsitzender des Deutschen Richterbunds, nennt das in seinem Buch „Das Ende der Gerechtigkeit“ einen „Missbrauch des Bußgeldsystems als Haushaltsinstrument“. Der Staat, so Gnisa, „prostituiert sich“, wenn er mit dem Rechtsbruch rechnet.
Doch was sagt die Stadt Bonn selbst? Auf unsere Presseanfrage reagierte man ausweichend. Die Einplanung von Bußgeldern in den Haushalt sei – so die Stadt – haushaltsrechtlich vorgeschrieben, da gemäß § 79 GO NRW und § 11 KomHVO NRW alle Erträge brutto auszuweisen seien. Man kalkuliere auf Basis „vergangener Erfahrungswerte“ und Rückmeldungen der Fachbereiche. Und: Die Bußgeldstelle sei „organisatorisch sowie sachlich getrennt“ vom Haushaltsreferat. Das klingt nach Formalismus – nicht nach Reflexion.
Keines der konkreten Probleme wurde beantwortet: Kein Wort zur Kritik Gnisas. Keine Aussage zur internen Kontrolle. Keine Antwort auf die Frage nach juristischen Gutachten, politischen Verantwortlichkeiten oder einer möglichen Reform der Praxis. Stattdessen der lapidare Hinweis: „Eine fiskalische Zweckverfolgung im Widerspruch zu haushaltsrechtlichen Grundsätzen findet nicht statt.“ Man verweist auf die Anschaffung neuer Blitzer – geplant, um die „Verkehrssicherheit zu gewährleisten“.
Doch wie trennt man Kontrolle von Kalkül, wenn man den Nutzen bereits bilanziert?
Der ACE schlägt eine andere Richtung vor: „Durch haushaltspolitische Vorgaben sollten Sondereinnahmen wie Bußgelder nicht oder zumindest nicht in voller Höhe in der Haushaltsplanung berücksichtigt werden.“ Nur wer keine Einnahmeerwartung hat, kann glaubwürdig sanktionieren. Wird hingegen geplant, prognostiziert und bilanziert, verwandelt sich die Ordnungswidrigkeit in eine fiskalische Notwendigkeit. Der Bürger wird dann nicht mehr ermahnt, sondern monetarisiert.
Müller-Baumgarten schlägt vor: „Wenn die Bußgeldeinnahmen höher waren als zuvor berücksichtigt, können diese im Folgehaushalt verplant werden.“ Das ist haushälterische Enthaltsamkeit – eine Tugend, die in Zeiten struktureller Defizite selten geworden ist. Umso wichtiger ist es, dass Alternativen denkbar bleiben: etwa die Überweisung an gemeinnützige Organisationen – wie sie im Strafrecht längst Praxis ist. In Hamburg etwa werden Geldauflagen gesammelt und zweimal jährlich an Projekte vergeben, die sozial wirken. „Das wäre auch bei behördlichen Bußgeldern denkbar“, so Müller-Baumgarten.
Die Frage, ob der Staat mit dem Rechtsbruch seiner Bürgerinnen und Bürger kalkulieren darf, ist keine juristische Spitzfindigkeit – sie ist ein demokratisches Thema ersten Ranges. Und sie gehört mitten hinein in den laufenden Kommunalwahlkampf, nicht nur in Bonn. Denn am 14. September entscheiden die Bürger auch darüber, welches Verständnis von Staat und Verwaltung künftig gelten soll: Ein Staat, der auf Einsicht und Gemeinwohl zielt – oder einer, der Haushaltslücken mit Radarfallen schließt.
Es wäre an den Kandidaten aller demokratischen Lager, dazu Stellung zu beziehen. Ist es politisch legitim, dass Einnahmen aus Blitzeraktionen fest in den Haushaltsplan eingepreist werden? Welche Alternativen gibt es zur fiskalischen Verwertung von Fehlverhalten? Und: Welche konkreten Maßnahmen sind denkbar, um die Unabhängigkeit der Verkehrsüberwachung zu sichern?
Demokratie beginnt dort, wo über Ziele und Mittel gestritten wird. Wenn der Bußgeldbescheid nicht mehr nur Sanktion ist, sondern Haushaltsstütze, dann sollte das auf den Marktplätzen der Städte zur Sprache kommen. Nicht als parteipolitisches Kleinformat – sondern als große Frage nach der Legitimität öffentlicher Macht.