Europa spricht von Aufrüstung. Von Bündnissen. Von Abschreckung. Doch es denkt zu selten darüber nach, ob seine Institutionen, Strukturen und Denkformen überhaupt noch zur Welt passen, die uns entgegentritt. Zwischen geopolitischen Großmächten und asymmetrischen Akteuren, zwischen Terrornetzwerken und Tech-Imperien, zwischen Staaten und Plattformen – Sicherheit lässt sich nicht mehr nach dem Schema des Kalten Krieges organisieren.
Was fehlt, ist nicht nur Ausrüstung, sondern ein geistiger Strukturwandel.
Disruption beginnt im Kopf
Clayton Christensen, der große Theoretiker der Disruptive Innovation, erkannte, dass etablierte Organisationen an ihren eigenen Erfolgsprinzipien scheitern. Sie optimieren das Bekannte, verteidigen das Bewährte – und übersehen das Neue. Im Militärischen bedeutet es: Großmächte unterschätzen kleine, flexible Gegner – und verlieren Kontrolle über die Dynamik.
Disruptive Innovation ist kein Managementbuzzword, sondern eine Realität auch der Geopolitik. Asymmetrische Akteure – Guerillas, Hacker, Söldner, Informationsnetzwerke – unterlaufen klassische Armeen nicht durch Übermacht, sondern durch Andersartigkeit.
Christensens Lehre: Wer auf neue Bedrohungen reagieren will, muss neue Strukturen bauen. Nicht verbessern, sondern verlernen. Nicht adaptieren, sondern neu gründen.
Vom Kompetenznetz zur Wirklogik
Felsers Überzeugung: Sicherheit entsteht nicht durch Silos, sondern durch kollaborative Intelligenz. Die Zukunft gehört nicht der Befehlskette, sondern dem Netzwerk mit Zielorientierung.
Die Ironie: Diese Gedanken wurden später in den USA umgesetzt – im Joint Special Operations Command, das als Reaktion auf 9/11 eben jene Prinzipien einführte, die man in Europa als „zu unkonventionell“ abtat. Während europäische Strukturen Aktenordner wälzten, experimentierte man im Pentagon mit selbstorganisierten Teams, schnellen Feedbackschleifen und Datenintelligenz.
Clausewitz und das Ende der Planbarkeit
Carl von Clausewitz schrieb einst: „Kein Operationsplan reicht mit einiger Sicherheit über das erste Zusammentreffen mit der feindlichen Hauptmacht hinaus.“ Dieser Satz war schon im 19. Jahrhundert eine Warnung vor Planungsillusionen – heute ist er eine Mahnung an jene, die glauben, man könne strategische Sicherheit durch Prozesse garantieren.
Clausewitz wusste: Krieg ist kein Algorithmus. Er ist Friktion, Zufall, Nebel. In einer Welt, in der Information selbst zur Waffe geworden ist, gilt das mehr denn je. Sicherheit bedeutet nicht, möglichst viele Excel-Tabellen zu füllen. Sicherheit bedeutet, im richtigen Moment das Falsche zu tun – weil es das Einzige ist, das noch funktioniert.
Sicherheit als Systeminnovation
Wenn Europa seine Sicherheit wirklich neu denken will, muss es aufhören, die Vergangenheit zu verwalten. Es muss lernen, wie man disruptive Verteidigung organisiert:
- mit redundanten Netzwerken statt zentralen Kommandohöhen,
- mit interoperablen, aber dezentralen Entscheidungsstrukturen,
- mit hybriden Fähigkeiten – digital, wirtschaftlich, narrativ, militärisch,
- mit Mut zur Lücke, zum Test, zum Irrtum – solange daraus Lernen wird.
Sicherheitspolitik wird zur Systeminnovation. Sie ist nicht mehr nur die Summe ihrer Truppenstärken, sondern die Qualität ihrer geistigen Infrastruktur. Sie fragt nicht: Wie groß ist unser Etat? Sondern: Wie wandlungsfähig ist unser Denken?
Drop your tools
In den USA wurde nach mehreren militärischen Fehlschlägen das Konzept des „Drop your tools“ bekannt – loslassen, was nicht mehr funktioniert. Auch Europa braucht diesen Moment. Nicht als Krise, sondern als Chance.
Denn wahre Resilienz beginnt dort, wo man nicht nur aufrüstet, sondern umlenkt. Wo man nicht nur abschreckt, sondern versteht. Wo man nicht nur handelt, sondern neu denkt.
Nicht mehr Clausewitz allein. Nicht mehr Christensen allein. Nicht mehr Felser allein. Sondern alle drei – als Denkfiguren für eine neue europäische Verteidigungsfähigkeit, die sich nicht in Technik erschöpft, sondern in Ideen beginnt.