Vom Maschinenmenschen zur stochastischen Vernunft

von Gunnar Sohn
22. Juni 2025

Wie Künstliche Intelligenz unser ökonomisches Denken zerlegt – und welche Hoffnung in der Unvollständigkeit liegt.
Was Lewis Mumford einst als „Megamaschine“ beschrieb, lebt heute in Plattformlogiken und KI-gesteuerten Entscheidungssystemen weiter – nur smarter und unsichtbarer. Doch es gibt ein Gegenmodell: Frank H. Witt entwirft eine Theorie der Künstlichen Intelligenz, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Kontingenz setzt. Ein Essay über Maschinen, Menschen und das, was Vernunft im 21. Jahrhundert bedeuten könnte.

Technik als Schicksal – und ihre stille Fortsetzung

Was der Mensch einst als Werkzeug ersann, hat sich in eine Weltmaschine verwandelt, deren Schaltpläne ihm zunehmend fremd sind. Lewis Mumford beschrieb sie als „Megamaschine“ – einen sozialen Apparat, der menschliche Körper, Arbeitskraft und Sinn in das Getriebe großtechnischer Rationalität einspannt. Nicht mehr der Einzelne entscheidet, sondern der Algorithmus der Organisation. Die Maschine funktioniert, weil sie funktioniert.

Heute erscheint diese Maschine in neuen Kleidern. Sie hat keine Zahnräder mehr, keine Fabrikschlote, keine Stechuhr. Ihre Mechanik ist statistisch. Ihre Steuerung erfolgt durch Mustererkennung, neuronale Netze, Recommendation Engines. Der Mensch wird nicht mehr kommandiert – er wird prädiziert.

Die neue Form der ökonomischen Vernunft

Frank H. Witt hat dieses Regime neu vermessen. In seiner Theorie der KI tritt nicht der denkende Roboter auf, sondern ein stochastisches System: eine Maschine des Kontexts, der Wahrscheinlichkeit, der Vermutung. Keine Maschine der Gewissheit – sondern eine der Überraschung. Was sie erzeugt, sind nicht Wahrheiten, sondern Vorschläge.

Damit verlässt Witt das Denken der klassischen Betriebswirtschaft. Er zerlegt das Effizienzparadigma, das KI vor allem als Automatisierung begreift. Für ihn ist das Entscheidende nicht die richtige Antwort, sondern das produktive Framing der Frage. KI wird zum Resonanzraum menschlicher Urteilskraft – nicht zu ihrer Auslöschung.

Der Mensch als Datenpunkt

In der Plattformökonomie hat sich längst eine andere Logik durchgesetzt. Dort zählt, was messbar ist. Kunden werden zu Klicks, Mitarbeiter zu Feedback-Kanälen. KI wird zur Blackbox der Entscheidungen, ihre Autorität speist sich aus Komplexität. Doch hinter den Zahlen verbirgt sich eine gefährliche Abstraktion: ein Menschenbild ohne Mensch.

Mumford hätte darin die Vollendung seiner Megamaschine gesehen – eine, die nicht mit Gewalt, sondern mit Verhalten operiert. Eine Maschine, die nicht mehr durch Macht, sondern durch statistische Wahrscheinlichkeit wirkt.

Ökonomie als Möglichkeitsraum

Und doch bleibt eine Hoffnung. Wenn wir KI als kontingente Mitspielerin verstehen, nicht als perfekte Maschine, dann könnte daraus eine neue Ethik des Wirtschaftens entstehen: eine, die Serendipität zulässt, Fehler produktiv macht, Widerspruch aushält. Eine, die nicht vorgibt, zu wissen, sondern besser zuhört.

Es ist kein Zufall, dass Mumford das Ideal einer „organischen Stadt“ entwarf – Technik, die dem Leben dient. Vielleicht ist es an der Zeit, dieses Ideal auf unsere Wirtschaft zu übertragen.

Die Megamaschine wird nicht gestoppt. Aber vielleicht kann sie umgelernt werden.

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