Disrupt or Die? Denk oder lass es.

von Gunnar Sohn
23. Juni 2025

Warum Breakthrough Innovation, KI-Mythen und das Märchen der schöpferischen Zerstörung die große Selbsttäuschung unserer Zeit sind

Disruption ist das Zauberwort. Wer nicht zerstört, hat verloren. Wer nicht radikal neu denkt, sei nicht zukunftsfähig. Disrupt or die.

Doch das ist kein Innovationsmantra. Es ist eine intellektuelle Nebelkerze. Eine synthetische Dringlichkeit, erzeugt durch Rückschaufehler, Wiederholung und Wunschdenken. Ihre Wirkung: mächtig. Ihr Fundament: fragil.

Wir leben im Zeitalter der narrativen Disruption – nicht der realen.

Die drei großen Märchen der Zukunft

Erstes Märchen: Disruption.
Sie stammt – so sagt man – von Schumpeter. Doch wer seine Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung von 1911 liest, findet dort kein einziges Mal das Wort „Zerstörung“ oder gar „Disruption“. Stattdessen: Neukombination. Ein Unternehmer ist kein Trümmermann. Kein digitaler Vandale. Sondern jemand, der Bestehendes anders verknüpft. Innovation entsteht aus Widerstand – nicht aus der Tabula rasa. Zerstörung kommt erst 1942 in Schumpeters Spätwerk vor – und auch dort nicht als Ideal, sondern als Phänomen.

Zweites Märchen: Breakthrough Innovation.
Die Marketingprediger der Breakthrough Innovation verkünden das neue Evangelium. Der große Moment, in dem plötzlich alles anders wird. Aber diese Geschichte ist eine retrospektive Konstruktion.

Der iPhone-Schock? Kam nur, weil man das Vorher ignoriert: Touchscreen, mobile Daten, mp3 (Fraunhofer), Design-DNA von Braun – alles längst da. Steve Jobs war kein disruptiver Erlöser, sondern ein kluger Kombinator.

Google? Die Gründer wollten es früh verkaufen – sie glaubten selbst nicht an den großen Durchbruch. Es war eine glückliche Kette aus Nutzererfahrung, Werbemodell und Zeitgeist.

Kodak? Hatte die digitale Kamera im Haus, aber kein Geschäftsmodell. Es war ein strategisches Nicht-Handeln, kein technologischer Rückstand.

Nokia? Scheiterte nicht an Innovation, sondern an fehlender Plattformstrategie und interner Trägheit.

Und: Zwischen disruptivem Narrativ und realer Adoption vergehen Jahre. Die Giganten der Kommunikationstechnologie haben vieles verschlafen – auch, weil sie an zentralistischer Steuerung und interner Blindheit litten. Philips, Siemens, GE: Was aus ihren Labors kam, kam oft zu spät oder gar nicht zum Markt. Der Unterschied zwischen Erfindung und Innovation ist gewaltig.

Drittes Märchen: KI als Jobkiller.
Die Osborne-Frey-Studie von 2013 ist das meistzitierte Totschlagargument: 47 Prozent der Jobs seien gefährdet. Aber Carl Benedikt Frey sagt selbst: „Nicht sehr viele sind bisher automatisiert worden. Und ich hätte das auch nicht erwartet.“ Die Studie war eine Potenzialanalyse, kein Orakel. Frey betont: Die stärksten Automatisierungsanreize kommen nicht aus dem Silicon Valley, sondern aus der Steuerpolitik. Arbeit wurde verteuert, Kapital entlastet. Das Risiko der Verdrängung ist politisch gemacht.

Gleichzeitig: KI ist kein Hokus Pokus. Sie wird eingesetzt – nach dem Rationalitätsprinzip. „The best part is no part“, wie Tesla sagt. „Der beste Prozess ist kein Prozess“, sagen SAP-Consultants. Es geht um Kettenreduktion, Effizienz, Kosten. Aber nicht um Weltveränderung im Sekundentakt. Die Verheißung der Breakthrough Innovation ist eher PR als Prognose.

Was hier wirklich wirkt: Der Rückschaufehler

Daniel Kahneman hat es seziert. Wir lieben Geschichten, die Ordnung suggerieren. Erfolg = Talent + Strategie. Die Wahrheit? Erfolg ist oft: etwas Talent + sehr viel Glück. Und: Wir erkennen Muster, wo keine sind. Das nennt sich Regression zur Mitte. Ein extremes Ergebnis ist selten stabil. Der eine Treffer bleibt der eine Treffer – der Rest normalisiert sich.

Das gilt auch für Unternehmen. Auch für Innovationen. Auch für Google, Amazon, Facebook. Wir sehen den Aufstieg. Wir ignorieren den Kontext. Die Subventionen. Die Zufälle. Die verpassten Chancen anderer. Und wir verwechseln Exzeption mit Regel.

Die große Umdeutung: Vom ökonomischen Prozess zur Managementideologie

Was als Analyse begann, wurde zur Ideologie. Disruption als Ausweg aus der Verantwortung. Als Rechtfertigung für Deregulierung, Prekarisierung, Plattformkapitalismus. Uber, Airbnb, WeWork: Disruption heißt hier nicht Fortschritt, sondern Umgehung – von Rechten, Regeln, Rücksicht.

Breakthrough Innovation? Wird zum Investorenbait. KI? Zur Projektionsfläche für alle Ängste – und alle Versprechungen. Was bleibt, ist ein systematisches Verkennen des Konkreten.

Die Realität: Evolution, nicht Explosion

Empirisch lässt sich kaum eine dieser apokalyptischen Thesen halten:

Carlota Perez zeigt: Technologische Revolutionen verlaufen in Zyklen. Installation. Krise. Anpassung. Deployment.

Paul David zeigt: Der Elektromotor brauchte Jahrzehnte, bis er produktiv war – vor allem, weil er eine dezentrale Fabrikstruktur ermöglichte und damit erst Organisationsformen veränderte.

Jesko Dahlmann zeigt: Die großen Unternehmer des 19. Jahrhunderts – Siemens, Rathenau, Troplowitz – haben nicht zerstört. Sie haben transformiert. Sie waren soziale Unternehmer im eigentlichen Sinn: Sie gründeten Arbeitervereine, führten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ein, bauten Betriebskrankenkassen auf. Ihr Innovationsbegriff war stets auch ein gesellschaftlicher.

Acemoglu/Restrepo zeigen: Automatisierung ersetzt selten ganze Berufe, sondern verändert Aufgabenverteilungen.

Innovation ist keine Abrissbirne. Sie ist ein Gerüstbauer.

Professorale Einwände – und was wir daraus lernen sollten

Ein klarsichtiger Einwand gegen ein zu bequemes Anti-Disruptions-Narrativ: Disruption mag kein Ordnungsprinzip sein, aber sie ist ein reales Phänomen – zumindest aus Sicht derer, die betroffen sind. Disruption bedeutet Zerreißen: di(s)rumpere im Lateinischen. Es zerreißt soziale Wertketten, Berufsbilder, Beziehungen. Wer das ignoriert, verharmlost echte Brüche.

Ein zweiter Einwand: Die Disruptionserzählung ist selbst Teil einer evolutionären Strategie. Sie soll Komplexität reduzieren, Handlungsfähigkeit suggerieren, Relevanz erzeugen. Auch Schirrmachers Analysen lebten von dieser Zuspitzung. Vielleicht ist also weniger das Wort Disruption das Problem – sondern das, was es im Mund der Falschen anrichtet: Aktionismus, Panik, Technologiekult.

Politikvorschläge: Von disruptivem Aktionismus zur strukturellen Zukunftsarbeit

Wirtschaftspolitik braucht keine Propheten. Sie braucht kluge Möglichkeitsarchitekten. Die folgenden sechs Vorschläge richten sich an jene, die Zukunft gestalten wollen, ohne in Hype-Logik zu verfallen:

  1. Probleme definieren, nicht Lösungen vorgeben. Politik sollte den Rahmen definieren – und die besten Lösungen im offenen Wettbewerb umsetzen lassen. Keine Technologievorgaben, sondern Zielklarheit.
  2. Grundlagenforschung stärken, Infrastrukturen ausbauen. Innovation braucht Räume, in denen Zweckfreiheit möglich ist. Infrastrukturpolitik heißt: Netze, Daten, Bildung, Energie, Standardisierung.
  3. Finanzierung vereinfachen, Vielfalt fördern. Raus aus der Hype-Verengung – hinein in die Breite produktiver Experimente.
  4. Kopieren erlauben – und besser machen. Auch Adaption ist Innovation.
  5. Adoption organisieren. Transformation ist Arbeit – keine Predigt.
  6. Institutionen kultivieren. Institutionen sind die eigentlichen Verstärker von Wandel.

Exkurs: Innovation jenseits des Breakthrough-Mythos – Für eine neue Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung im 21. Jahrhundert

Wer von Breakthrough- oder Superinnovationen spricht, bewegt sich auf dünnem Eis ökonomischer Fiktion. Die Faszination an der „einen Idee, die alles verändert“ verkennt systematisch, dass ökonomischer Wandel nicht aus dem Nichts kommt. Joseph A. Schumpeter, der oft selbst missverstanden wird, hat in seinen Konjunkturzyklen ein anderes Bild gezeichnet: Das Fortschreiten der Wirtschaft gleicht weniger einem Sprung als einem evolutionären Strom, gespeist von Routine, Reproduktion, Kreditvergabe und unzähligen Unternehmensgründungen. Innovation entsteht aus Kombinatorik – nicht aus Genialität im luftleeren Raum.

Schumpeter unterschied präzise zwischen Erfindung (Invention) und Innovation. Erst der Unternehmer, der eine Erfindung „zur Anwendung bringt“, transformiert sie in eine ökonomisch relevante Neuerung. Diese Transformation findet nicht im Gleichgewicht, sondern im Ungleichgewicht statt – und sie wird selten von etablierten Großunternehmen, sondern von neuen Firmen getragen.

Die Realität: Schumpeters Aufschwungszyklen beginnen mit „einigen wenigen Pionieren“, gewinnen aber erst durch „scharenweise Imitation“ an konjunktureller Wucht. Innovation ist nicht solitär, sondern massenhaft – nicht singulär, sondern sozial.

Jede Innovation ist auf die Infrastruktur vorheriger Innovationen angewiesen – ökonomisch, technisch, sozial. Der Mythos der Breakthrough Innovation wird durch das Konzept der „Pfadabhängigkeit mit Potenzial zur Abweichung“ ersetzt.

Innovation ist ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten unter Unsicherheit. Wer ihre Entstehung planbar machen will, wird enttäuscht. Wer aber Räume schafft, in denen neue Kombinationen plausibel, finanzierbar und anschlussfähig werden, der setzt die Dynamik in Gang, die Schumpeter einst in Bonn theoretisch durchdrang.

Nicht als Dogma. Sondern als offene Einladung zum Denken.

Chapeau, Schumpeter. Willkommen, Innovation als Emergenz.

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