Wissen ohne Gewissheit – Frank H. Witt, Ökonomie und die kritische Theorie der Künstlichen Intelligenz

von Gunnar Sohn
26. Juni 2025

In einer Welt, in der Prognosen zur Ersatzreligion technokratischer Politik geworden sind, legt Frank H. Witt ein Werk vor, das wie ein intellektuelles Misstrauensvotum gegen die Fortschrittserzählungen der Digitalisierung wirkt. Sein neues Buch „Künstliche Intelligenz: Transformation und Krisen in Wirtschaft und Gesellschaft“ entwirft nicht weniger als eine neue Gesellschaftsanalyse – mit Wittgenstein, Gramsci, Keynes im Gepäck und Peter Thiel als strategischem Stichwortgeber.

Der Herrschaftsmodus der Prognose

Bereits der Ausgangspunkt ist bemerkenswert: Prognosen über soziale Entwicklungen, so Witt, sind keine neutralen Diagnosen, sondern Akte hegemonialer Bedeutungsstiftung. Damit rückt er nahe an Antonio Gramscis Überlegung zur „Voraussicht als strategischer Intelligenz der herrschenden Klasse“ (Gramsci, Q 3, §34). Wer vorhersagen darf, hat nicht nur methodische Kompetenz, sondern auch die kulturelle Macht, Realität zu benennen – und Alternativen auszublenden.

Wirtschaftliche Vorhersagemodelle wie jene des Sachverständigenrats greifen in bis zu 70 % der Fälle systematisch daneben (Fritsche/Stephan 2002; Loungani 2001). Doch die symbolische Autorität bleibt unangetastet. Frank H. Witt legt hier den Finger in die Wunde: In der digitalen Moderne beobachten wir eine stille, aber folgenreiche Verschiebung – algorithmische Prognosen übernehmen Aufgaben, die früher Ergebnis öffentlicher Debatten waren. Was früher durch politische Aushandlung, Argumente und demokratische Verfahren entschieden wurde, wird heute zunehmend an Modelle delegiert, die auf Daten und mathematischen Verfahren beruhen – aber weder transparent noch rechenschaftspflichtig sind.

Damit verschiebt sich auch die Quelle gesellschaftlicher Legitimität: Nicht mehr das offene Streitgespräch im Parlament oder in der Öffentlichkeit entscheidet, sondern das technisch erzeugte Ergebnis eines Modells. Das, was als „objektiv“ gilt, gewinnt Vorrang gegenüber dem, was als „aushandelbar“ galt. Die Legitimität des Modells ersetzt die Legitimität des Diskurses.

Diese Entwicklung ist nicht nur technisch, sondern erkenntnistheoretisch brisant. Witt nennt sie eine epistemische Wendung: eine Veränderung in der Art und Weise, wie wir Wissen erzeugen, autorisieren und gesellschaftlich wirksam machen. An die Stelle pluraler Interpretationen treten vermeintlich neutrale Berechnungen. An die Stelle von Deutungskonflikten tritt das Modell, das scheinbar alternativlos spricht – und damit selbst zum politischen Akteur wird.

Genau diesen Wandel analysiert Witt: philosophisch fundiert und machtkritisch geschärft.

Sprache, Bedeutung, Kontext: Wittgenstein als Vordenker der KI

Witt argumentiert auf der Grundlage der Philosophischen Untersuchungen Ludwig Wittgensteins, dass Bedeutung nicht durch Definition, sondern durch sozialen Gebrauch entsteht. In dieser Perspektive sind KI-Modelle keine Wahrheitsmaschinen, sondern Systeme, die durch statistische Verfahren Kontexte rekonstruieren – maschinelle Kontextexzessoren, nicht Erkenntnisquellen im klassischen Sinn. Damit wird das Sprachspiel zur erkenntnistheoretischen Struktur moderner KI. Der Akt der Vorhersage – in Wirtschaft wie Technologie – ist stets performativ und abhängig von der Perspektive, aus der gefragt wird.

Keynes: Der Abschied vom rationalen Agenten

Diese Kontextualität trifft auf ein Ökonomieverständnis, das lange Zeit in der Rationalität des homo oeconomicus verharrte. Frank H. Witt stellt dem die Denkfigur von John Maynard Keynes entgegen: Unsicherheit als konstitutives Moment wirtschaftlicher Wirklichkeit. Keynes’ berühmter Essay Economic Possibilities for Our Grandchildren (1930) enthält bereits die Ahnung, dass technologische Produktivität nicht zwangsläufig in gesellschaftliche Entlastung mündet. Für Witt liegt hier die Parallele zur KI: Auch sie verspricht Entlastung, erzeugt aber neue Formen von Abhängigkeit, Unsicherheit und eine „technische Simulation von Gewissheit“ – eine Art kognitive Ersatzwährung in volatilen Zeiten.

Gramsci reloaded: Intellektuelle Maschinen und digitale Hegemonie

Gramscis Konzept der organischen Intellektuellen erhält bei Witt eine neue Wendung. KI-Systeme – insbesondere große Sprachmodelle – fungieren zunehmend als kulturelle Wissensakteure, die die gesellschaftlichen Deutungsräume mitgestalten. Sie produzieren nicht nur Antworten, sondern wirken als Mechanismen der Vorstrukturierung: Was sagbar ist, wird vorformatiert; was möglich erscheint, wird ausgerechnet.

Witt macht deutlich, dass die Frage nach künstlicher Intelligenz nicht bei Algorithmen beginnt, sondern bei der politischen Struktur des Wissens selbst. Die entscheidende Auseinandersetzung findet nicht zwischen Mensch und Maschine statt, sondern zwischen alternativen Zukünften – und der Möglichkeit, sie zu formulieren. Wer die Sprache beherrscht, schreibt nicht nur Geschichten, sondern definiert auch die Probleme, die gelöst werden dürfen.

In dieser Perspektive ist KI nicht bloß Werkzeug, sondern ein Apparat der Wissensproduktion – ein maschineller Akteur, der sich in diskursive Machtverhältnisse einschreibt. Witt fordert daher eine Form der politischen Lektüre maschineller Systeme: Wer spricht? In wessen Namen? Und mit welchen Auswirkungen auf unser Weltverständnis?

Peter Thiel: Rekombination des Denkens

Anders als viele Kritiker des Silicon Valley setzt Frank H. Witt nicht auf bloße Abgrenzung. Er nimmt Peter Thiel ernst – als Stichwortgeber für eine strategische Neuausrichtung im Denken über Innovation. In Zero to One (2014) beschreibt Thiel, dass jede bedeutende Neuerung mit einer neuen Frage beginnt, nicht mit einem besseren Tool. Diese Sichtweise passt überraschend gut zu Witts KI-Theorie: Auch hier geht es nicht um Rechenleistung oder Datenfülle, sondern um die Neudefinition erkenntnistheoretischer Horizonte – also darum, wie wir überhaupt wissen, was wir zu wissen glauben.

Wo Thiel für „vertikalen Fortschritt“ plädiert – den Sprung vom Gewohnten ins Unerwartete – argumentiert Witt für die produktive Ungewissheit: KI als Werkzeug, das Denk- und Möglichkeitsräume eröffnet, keine autoritäre Wahrheit produziert. Der Unterschied liegt in der Sprache, nicht im Ziel. Thiels „Zero to One“ beschreibt die Logik der ersten Bewegung; Witt fragt nach dem Denken, das diese Bewegung möglich macht – und dem Kontext, der sie lesbar hält.

Die Rückkehr der Philosophie

Witts Entwurf ist damit kein technikzentriertes Manifest, sondern ein Beitrag zur kritischen Theorie der Wissensordnung. Er operiert mit einer Theorie der epistemischen Kontingenz – also der Einsicht, dass alles Wissen immer auch anders hätte entstehen können. Diese Theorie richtet sich gegen jede Form technischer Arroganz – ob im Zentralbankdiskurs, in der Ökonometrie oder im Plattformkapitalismus. Sie setzt nicht auf Vorhersage, sondern auf Lesbarkeit. Nicht auf Kontrolle, sondern auf Kontext. Und letztlich: Nicht auf das Modell, sondern auf das Denken.

So gesehen ist Witts Theorie der Künstlichen Intelligenz ein Versuch, das hegemoniale Schweigen der Maschinen zu brechen. Sie steht in der Tradition von Keynes’ Unsicherheitsbegriff, Wittgensteins Sprachspieltheorie und Gramscis kritischer Gesellschaftsanalyse – aber sie reformuliert diese mit den Mitteln der Gegenwart: algorithmisch, machtbewusst, erkenntniskritisch.

Und vielleicht ist das die eigentliche Pointe: Während die Rechenzentren der Welt versuchen, den Menschen in Daten aufzulösen, versucht Frank H. Witt, dem Denken ein Gedächtnis und der Politik eine Sprache zurückzugeben.

2 Kommentare

Frank H. Witt 26. Juni 2025 - 20:23

𝗖𝗵𝗮𝗽𝗲𝗮𝘂 – 𝗼𝗱𝗲𝗿 𝗲𝗶𝗻𝗳𝗮𝗰𝗵 𝗻𝘂𝗿: 𝗪𝗼𝘄!

Natürlich wage ich nicht zu widersprechen, wenn ich – wohlwissend, dass man als Zwerg besser zu erkennen ist, sobald man auf ein Podest gestellt wird – mich oder mein Buch (aber Hand aufs Herz: ist das nicht beinahe dasselbe?) in einem Titelbild neben Giganten wie Wittgenstein, Boltzmann und Turing wiederfinde.

Wenn dann auch noch ein Besuch bei Gramsci dabei ist, der im Gefängnis Mussolinis den Begriff der kulturellen Hegemonie entwickelte – ganz zentral, wenn man über KI nachdenkt! – und der große Keynes auftritt, der schon 1930 über eine Gesellschaft nachdachte, in der Technologie Knappheit überwindet, dann bleibt tatsächlich nur noch eines: Philosophie. Ein neues Athen – diesmal ohne Sklaven.

Und schließlich: Die perfide Brillanz von Poppers Kritik, der als Hayek-Zögling und erbitterter Widersacher Wittgensteins nicht nur dessen Sprachphilosophie ablehnte, sondern gleich das gesamte Verständnis von Bewusstsein, Evolution und moderner Physik – also exakt das, was man bräuchte, um ein GPT oder ein LLM wirklich zu verstehen.

Smarter Service bis an den Rand dessen, was heute möglich ist. Mit Thiel? Vielleicht sogar darüber hinaus und anders – aber lehrreich!.

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Antwort
Gunnar Sohn 26. Juni 2025 - 21:07

Lieber Frank,
wer sich – wie Du – mit so scharfem Blick zwischen Gramscis Zellentür und Poppers Fußnoten bewegt, dem kann ich beim besten Willen nicht widersprechen. Jedenfalls nicht ohne vorher ein frisches Heft Philosophical Investigations unter das Kopfkissen zu legen und Keynes‘ „Economic Possibilities for our Grandchildren“ nochmal laut zu lesen.

Und ja: Wenn ein Buch neben Boltzmann, Wittgenstein und Turing posiert, dann ist das entweder größenwahnsinnig – oder ein gut getimter Zwischenruf aus der Zukunft. Ich plädiere auf letzteres. Denn in Zeiten, in denen sich Large Language Models wie GPT an die Tür des Weltgeistes tippen, braucht es genau das: ein neues Athen (ohne Sklaven, aber mit Serverfarmen).

Vielleicht ist Smarter Service am Ende tatsächlich eine Art dialektische Spielwiese – zwischen kulturalistischer Machtanalyse und probabilistischer Kontextverarbeitung. Und wenn Thiel dort auftaucht, dann hoffentlich als unfreiwilliger Sparringspartner, nicht als Gründungsmythos.

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