Krieg, Kooperation, Kontingenz: Warum Europa strategisch umlernen muss

von Gunnar Sohn
27. Juni 2025

Von Gunnar Sohn

In der Managementtheorie des Clayton Christensen ist Innovation kein Knalleffekt, sondern ein langsamer Verdrängungsprozess, der von außen oft unterschätzt wird. Die vermeintlich unterlegene Technologie frisst sich von unten nach oben durch die Wertschöpfungskette – leise, aber endgültig. Genau dieses Muster sehen wir derzeit in der sicherheitspolitischen Architektur Europas: Die innovativen Impulse kommen nicht aus Brüssel, Berlin oder Paris – sie kommt aus Kyjiw.

Nathanael Liminski hat in seinem jüngsten Beitrag für die FAZ diese neue Realität auf den Punkt gebracht. Was dort als Lob auf die Resilienz und Innovationskraft der Ukraine erscheint, ist bei näherer Betrachtung ein stiller Vorwurf an uns selbst: „Wer die Ukraine weiter nur als Bittstellerin betrachtet, vergibt eine strategische Chance.“ In Wahrheit ist es Europa, das um Hilfe bitten müsste – um operative Relevanz und strategische Unvoreingenommenheit.

Clausewitz revisited: Krieg ist keine Verlängerung der Bürokratie

Carl von Clausewitz hat den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln beschrieben. In Zeiten digitaler Hochgeschwindigkeit müsste man hinzufügen: Der Krieg ist heute auch die Fortsetzung der Technologiepolitik – mit radikalen Mitteln. Wer in klassischen Ressortgrenzen denkt, wer Verteidigung von Digitalisierung trennt, wer Souveränität als Sicherheitsproblem des 20. Jahrhunderts behandelt, wird auf dem Feld der modernen Konflikte nicht bestehen.

Christensens Theorie trifft auf Clausewitz’ Realismus: Es geht nicht um Panzerzählerei, sondern um strategische Lernprozesse. Um ein Operating Model, das Bedrohung nicht administriert, sondern antizipiert. Genau das ist die Pointe der Ukraine – und das Versäumnis Europas.

Felser’sches Denken: Die strategische Lücke ist nicht technologisch – sie ist mental

Der Netzwerker Winfried Felser hat immer wieder betont, dass Innovation nicht an Tools, sondern an Denkmustern scheitert. Wer heute Sicherheitspolitik betreibt, muss verstehen, dass Resilienz kein Zustand, sondern ein Prozess ist – ein lernender, vernetzter, offener. Die Ukraine zeigt, was es heißt, unter Druck ein innovationsfähiges Ökosystem zu entwickeln: nicht trotz des Krieges, sondern durch ihn.

Was Liminski schildert – vom Dnipro-Krankenhaus als „Überlebensfabrik“ bis zur Drohnenproduktion mit Frontnähe – ist kein Fallstudienmaterial für Thinktanks. Es ist ein Imperativ für eine neue europäische Sicherheitsökonomie. Eine Ökonomie, die auf drei Prinzipien basiert:

Tempo statt Trägheit; Kooperation statt Konferenz; Verfügbarkeit statt Versprechung.

    SAFE oder SLEEP? Wofür steht Europa?

    Die SAFE-Initiative der EU soll 150 Milliarden Euro mobilisieren, um die europäische Rüstungsindustrie zu stärken – auch durch Partnerschaften mit der Ukraine. Doch wer sich mit Entscheidungsprozessen in europäischen Förderprogrammen beschäftigt, erkennt: SAFE droht zum SLEEP-Programm zu werden, wenn wir Tempo und Zielgerichtetheit nicht neu definieren. Ausrüstung ohne Ausrichtung ist nur Hardware.

    Liminski spricht von einer strategischen Partnerschaft mit der Ukraine – als Chance für beiderseitige Selbsthilfe. Das ist kein Symbolsatz, sondern ein Aufruf zur operativen Neuvermessung Europas. In einer Zeit, in der amerikanische Abschreckung wankt und chinesische Interessen zunehmen, ist die Ukraine nicht nur Verbündeter, sondern Katalysator. Wer das nicht erkennt, riskiert nicht nur militärische Rückständigkeit, sondern auch strategische Irrelevanz.

    Clausewitz heute: Die „Schwere des Ernstfalls“

    Clausewitz schreibt vom „Nebel des Krieges“ – von der Unübersichtlichkeit, die jede Planung an der Front verändert. Doch was, wenn der Nebel nicht das Gefecht, sondern die Regierungspraxis umhüllt? Was, wenn Ernstfälle nicht vorbereitet, sondern verwaltet werden?

    Liminskis Analyse ist in diesem Punkt glasklar: „Wenn wir die Vorbereitung auf den Ernstfall ernst meinen, sollten wir die Partnerschaft mit der Ukraine ausbauen – mit mehr Tempo und Tiefe.“ Alles andere ist Simulation von Sicherheit. Die Ukraine ist längst Teil der europäischen Sicherheitsarchitektur – faktisch, wenn auch noch nicht formell. Es liegt an uns, daraus eine Allianz der Realität zu machen.

    Sicherheitspolitik beginnt heute mit einem Perspektivwechsel. Nicht wir helfen der Ukraine, sondern sie hilft uns, unsere eigene Verteidigungsunfähigkeit zu erkennen. Europas strategische Lücke ist nicht militärisch, sondern mental. Wer das verstanden hat, wird die Ukraine nicht als Sonderfall behandeln, sondern als Lehrmeisterin eines neuen Denkens.

    Schreiben Sie einen Kommentar

    Ähnliche Beiträge

    Studienband Twin Transformation
    Zukunftsfähigkeit
    mit Nachhaltigkeit
    und Digitalisierung

     

    24 Fallstudien zeigen den Weg!