Die Buchpremiere von Robin Alexanders „Letzte Chance – Der neue Kanzler und der Kampf um die Demokratie“ auf der Phil.cologne war mehr als eine Lesung. Sie war ein sicherheitspolitischer Weckruf – zurückhaltend im Ton, aber unmissverständlich in der Analyse. Kein grelles Podium, kein Aktionismus. Sondern ein Gespräch, das die Grundmauern deutscher Politik in Frage stellte.
Alexander beginnt nicht mit dem großen geopolitischen Bogen. Er beginnt mit einem Moment. Hamburg, 28. Februar 2025. Friedrich Merz, als künftiger Kanzler gefeiert, lässt sich nach einem Wahlkampfauftritt im CDU-Zentrum in seinen Wagen fahren. Auf dem Rücksitz: ein iPad, ein Link, ein Video aus dem Oval Office. Trump demütigt den ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Kein Handschlag, keine Verträge. „Good TV“, höhnt Trump. Die USA entkoppeln sich – nicht abstrakt, sondern vor laufenden Kameras.
Merz telefoniert die halbe Nacht. Mit Scholz. Mit den Seinen. Artikel 5 – in Zweifel. Atomare Abschreckung – nicht mehr glaubwürdig. Der Moment, in dem klar wird: Sicherheit beginnt im Kopf.
Robin Alexander schildert diesen Moment mit der Knappheit eines strategischen Protokolls. Was dann folgt, ist nicht mehr Koalitionspolitik, sondern Staatsräson im Ausnahmezustand. Scholz und Merz, wenige Wochen zuvor noch Gegner, erkennen im Gleichklang die Konsequenz: Deutschland muss sich selbst verteidigen können. Nicht irgendwann. Jetzt.
Der Schock als Strategie
Merz genehmigt in dieser Stunde, was er im Wahlkampf noch ausgeschlossen hatte: eine neue Schuldenaufnahme in historischer Höhe. 400 Milliarden für Verteidigung. 500 Milliarden für Infrastruktur. Kein ideologisches Projekt, sondern ein Zwang zur Realität. Die alte westliche Welt – zerfallen in Bildern. Und Deutschland? Muss sich neu vermessen.
Alexander beschreibt die politische Konsequenz mit kühler Genauigkeit: „Was auf dem Spiel steht, ist mehr als ein Wehretat. Es ist die strategische Handlungsfähigkeit des demokratischen Zentrums.“ Und diese ist gefährdet – durch juristische Fesseln wie die Schuldenbremse, durch ideologische Reflexe, durch die Sperrminoritäten von AfD, Linken und BSW.
Der Feind im Schatten der Routinen
Was Alexander entfaltet, ist kein Alarmismus, sondern ein nüchterner Blick auf die strukturelle Entwaffnung eines Staates, der sich zu lange in Wohlfühlrhetorik eingerichtet hatte. Die sicherheitspolitische Kultur der Bundesrepublik – verwaltet, wegmoderiert, abgetreten an Expertengremien, Kommissionen, Stiftungen. Sicherheit? Ja, aber bitte „auch“ – niemals im Zentrum.
Ganz anders Polen, Litauen, Estland. Dort ist Wehrhaftigkeit Staatsprinzip. In Deutschland hingegen wird „Dual Use“ in Kommissionsberichten versteckt, im Sachverständigenrat marginalisiert, im Innovationsbericht als Nebenbemerkung abgehakt.
Clausewitz im Koalitionsvertrag
Erst der externe Schock – so Alexander – zwingt zur Konzentration. Was daraus folgt, ist eine bizarre Achse: Scholz und Merz, Pistorius und Dobrindt, Dröge und Fuest – vereint durch den Ernst der Lage. Der neue Kanzler übernimmt – unausgesprochen – Positionen, die noch vor Monaten von Habeck oder Saskia Esken formuliert wurden. Merz bricht mit der Fiktion, man könne Sicherheit und Wohlstand getrennt voneinander denken.
„Verteidigung ohne Investitionen ist Rhetorik“, schreibt Alexander sinngemäß. Und: „Nichtstun kostet mehr.“ Diese Logik durchzieht den neuen Koalitionsvertrag, der nicht nur von Bedrohung spricht, sondern von Reaktionsgeschwindigkeit.
Die Zukunft: Wehrhaftigkeit oder Selbstbetrug
Was bleibt, ist die Frage: Sind wir bereit? Nicht finanziell – mental. Alexander lässt daran Zweifel. Die Debatte um Wehrpflicht, um strategische Industrie, um gesellschaftliche Resilienz sei kaum mehr als Scheingefecht – geführt von Leuten, die sich auf alten Gewissheiten ausruhen.
Er beschreibt einen politischen Apparat, der sich erst bewegt, wenn der Schock kommt. Doch wie viele Schocks hält ein demokratisches Gemeinwesen aus?
Die Phil.cologne-Lesung war deshalb mehr als ein Abend für Politikinteressierte. Sie war eine Zustandsbeschreibung einer Gesellschaft im strategischen Blindflug. Robin Alexanders Buch liefert die Landkarte. Die Koordinaten haben sich verschoben. Die Frage ist: Wer liest mit?