Wenn die Schere aufgeht zwischen KI-Anwendung und KI-Wissen

von Gunnar Sohn
2. Juli 2025

Auf einer aktuellen Branchen-Tagung zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz in Marketing, Kommunikation und Serviceprozessen wurde ein Phänomen sichtbar, das sich zunehmend als strukturelles Problem der digitalen Transformation entpuppt: Die wachsende Diskrepanz zwischen praktischer KI-Anwendung und strategischem KI-Wissen innerhalb der Unternehmen. Die Paneldiskussion offenbarte, was in vielen Organisationen unausgesprochen bleibt: Zwischen dem Enthusiasmus für neue Tools und der nachhaltigen Verankerung von KI-Kompetenz klafft eine Lücke, die nicht nur durch Workshops oder Softwarelizenzen zu schließen ist.

Zwar zeigte sich im Publikum der Tagung eine bemerkenswerte Vielfalt an bereits implementierten Anwendungsfällen – von virtuellen Telefonassistenten im Gesundheitswesen über interaktive Avatare im Content-Marketing bis hin zu automatisierten Workflows für Newsletterproduktion. Doch eine parallel durchgeführte Live-Umfrage ergab ein durchschnittliches Reifegrad-Score von lediglich 2,5 auf einer Skala von 1 bis 5. Die meisten Unternehmen befinden sich offenbar in einem frühen Stadium der Implementierung: Es wird experimentiert, getestet, pilotiert – aber selten systematisch transformiert.

Als zentrales Hindernis wurde nicht etwa die Technologie selbst benannt, sondern die kognitive Hürde innerhalb der Organisationen: fehlendes mentales Know-how, mangelnde Kapazitäten und unzureichende Datenqualität. Auch die Fähigkeit, eigene Arbeitsprozesse zu reflektieren und in strukturierte, KI-taugliche Teilaufgaben zu zerlegen, wurde als begrenzender Faktor erkannt. Der Eindruck verdichtete sich: Die größten Blockaden liegen nicht im Toolset, sondern im Mindset.

Hinzu tritt ein weiterer, oft unterschätzter Aspekt: Der „Sperr-Riegel Compliance“. In vielen Organisationen ist der Zugriff auf KI-Tools aus Datenschutzgründen oder regulatorischer Vorsicht grundsätzlich untersagt – insbesondere auf öffentlich zugängliche Dienste oder Open-Source-Modelle. Was als Schutzmaßnahme intendiert ist, erzeugt paradoxerweise eine neue Form des Risikos: Schatten-KI. Mitarbeitende, die von offiziellen Prozessen ausgeschlossen sind, behelfen sich mit privaten Geräten, anonymen Browsern oder inoffiziellen Workarounds. So entstehen informelle KI-Strukturen unterhalb der Sichtlinie der IT-Abteilungen – ohne Sicherheitsstandards, ohne Qualitätskontrolle, ohne strategische Einbettung. Wer KI verbietet, verliert nicht nur Kontrolle, sondern auch Vertrauen.

Dieser Befund wirft eine grundlegende Frage auf: Was nützt ein wachsendes Arsenal an KI-Anwendungen, wenn es im Unternehmen keine begriffliche, organisatorische und regulatorische Einbettung dafür gibt? Der Glaube, mit Chatbots oder Avatar-Engines allein ließen sich komplexe Geschäftsprozesse digitalisieren, hat sich als Illusion erwiesen. Vielmehr zeigte die Diskussion, dass gerade jene Unternehmen erfolgreich sind, die KI nicht als „Plug-and-Play“-Technologie, sondern als kulturellen Lernprozess begreifen.

Ein Impuls aus dem Panel war in diesem Zusammenhang besonders aufschlussreich: Der Vergleich mit der frühen Phase von Google. Niemand habe Googeln durch einen Workshop gelernt, sondern durch tägliche Wiederholung, durch Trial and Error, durch Neugier. Ähnlich müsse heute auch die Aneignung von KI stattfinden – eingebettet in das „Daily Doing“, mit stetigen Mikroschritten statt punktuellen Großveranstaltungen.

Was dabei helfen kann, ist ein Strategiewechsel: weg von der Toolfixierung, hin zur strategischen Rahmung. KI-Tools müssen in Prozesse eingebettet werden, die regelmäßig reflektiert, angepasst und durch interne Lernimpulse begleitet werden. Nicht die Technologie verändert die Organisation – sondern die Organisation muss sich verändern, um Technologie sinnvoll nutzen zu können.

Damit wird auch deutlich: Die Öffnung der Schere zwischen KI-Anwendung und KI-Wissen ist kein temporäres Reifeproblem, sondern ein Indikator für die Unreife traditioneller Arbeitskulturen im Umgang mit lernenden Systemen. Es reicht nicht, neue Software einzukaufen – es braucht eine neue Form der Selbstbeobachtung. Wer KI nutzen will, muss zunächst verstehen, wie er selbst arbeitet. Und wer KI blockiert, provoziert Schattenprozesse – mit allen Risiken, aber ohne strategischen Mehrwert. Die KI der nächsten Stufe beginnt nicht auf der Benutzeroberfläche – sie beginnt im Kopf. Und in der Haltung.

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