Die russische Invasion in die Ukraine, der Umbau der Weltwirtschaft und die Erosion der multilateralen Ordnung haben Deutschlands sicherheits‑ und wirtschaftspolitische Grundannahmen erschüttert. Unter Bundeskanzler Friedrich Merz versucht Berlin erstmals seit Jahrzehnten, seine militärischen Fähigkeiten massiv auszubauen. 2025 hat der Bundestag die verfassungsrechtliche Schuldenbremse für Rüstungsprojekte gelockert und ein Modernisierungsfonds von 500 Mrd. Euro beschlossen; das neue Ziel sind Verteidigungsausgaben von fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts, davon 3,5 % für Rüstung und 1,5 % für dual‑use‑Infrastruktur. Diese „Zeitenwende“ darf jedoch nicht bei F‑35‑Käufen und Munitionsbeständen stehen bleiben. Sie verlangt, Innovation, Technologie und Verteidigung als Gesamtsystem zu denken – andernfalls droht „Dual Use“ zu einer Sackgasse zu werden.
Dual‑Use als strategisches Prinzip
Lange wurden zivile und militärische Technologien getrennt betrachtet. Im 21. Jahrhundert ist diese Trennung unhaltbar. Die Erfahrungen der ukrainischen Drohnen‑Industrie zeigen, wie schnell zivile Innovationen in militärische Anwendungen überführt werden können und wie sehr sich operative Lernzyklen und Produktion gegenseitig verstärken. Eine aktuelle Analyse zur deutschen Verteidigungsmodernisierung beschreibt, dass Unternehmen vermehrt künstliche Intelligenz, kommerzielle Fertigungsmethoden und Start‑up‑Modelle in militärische Anwendungen integrieren – ein Bruch mit der traditionellen Abschottung zwischen zivilen und militärischen Sektoren. Durch die enge Zusammenarbeit mit ukrainischen Drohnenherstellern wurde Deutschland zum Vorreiter der nächsten Generation von Kriegsführung, wobei die technologische Zusammenarbeit sofortige Erkenntnisse liefert, die wiederum in die NATO‑Planung einfließen.
Die Verschmelzung von zivilen und militärischen Innovationen darf nicht tabuisiert werden; sie ist der Schlüssel zu technologischer Souveränität. Primes wie Rheinmetall, Airbus oder Hensoldt verfügen über industrielle Kapazitäten und Zulassungsprozesse, während Start‑ups Geschwindigkeit, Softwarekompetenz und disruptive Ansätze einbringen. Nur eine Ökosystem‑Strategie, in der Primes als „Innovations‑Enabler“ fungieren und gemeinsam mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie Universitäten entwickeln, kann Europas Abhängigkeit reduzieren. Deutschland sollte hier auf bewährte internationale Instrumente zurückgreifen und Konsortien verpflichtend vorschreiben, in denen Großunternehmen und KMU gemeinsam anbieten.
Beschaffungsreform: Tempo schlägt Tradition
Der sicherheitspolitische Kurswechsel erfordert radikale Veränderungen im Beschaffungswesen. Der derzeitige Apparat ist auf Frieden und Großprojekte zugeschnitten; in einer multipolaren Welt ist dies fatal. Experten fordern eine Dezentralisierung: Einheiten sollten kleinere Losgrößen selbst beschaffen und neue Technologien erproben dürfen, während große Investitionen weiterhin zentral entschieden werden. Die Ukraine zeigt, dass Innovationszyklen von wenigen Wochen den Unterschied zwischen Erfolg und Scheitern ausmachen – Beschaffungsverfahren, die zwei Jahre dauern, ignorieren diese Realität.
Daneben müssen Start‑ups Zugang zu Kapital und Märkten bekommen. Eine wesentliche Hürde ist die Risikoscheu des Finanzsektors. Zwar wurden ESG‑Richtlinien angepasst und Verteidigung als ethisch zulässig eingestuft, doch viele Banken verweigern Dual‑Use‑Firmen weiterhin Konten. Politische Fonds sollten deshalb privates Kapital hebeln und den Crowding‑in‑Effekt nutzen. Gleichzeitig müssen Beteiligungen an sensiblen Technologien besser geprüft werden, wie die strengeren Regelungen zum Investitionsscreening 2025 zeigen.
Wirtschaftliche Resilienz und Friendshoring
Sicherheitspolitik ist ohne wirtschaftliche Resilienz nicht denkbar. In ihrem Buch „Der Freihandel hat fertig“ analysieren Gabriel Felbermayr und Martin Braml die wachsenden Spannungen zwischen sicherheits‑ und wirtschaftspolitischen Zielen. Sie definieren Güter als kritisch, wenn (1) kurzfristig keine Substitute existieren, (2) sie unmittelbar konsumrelevant sind und (3) bei Knappheit rationiert werden müssen. Autarkie ist dabei keine Lösung: Eine rein nationale Versorgung kann weder vor externen Schocks schützen noch wirtschaftlich sinnvoll sein.
Stattdessen schlagen die Autoren Konzentrationszölle vor. Diese progressiven Abgaben steigen mit dem Importanteil eines Landes und zwingen Unternehmen, ihre Lieferketten zu diversifizieren. Das Instrument adressiert Abhängigkeiten direkt, ohne Subventionen vorwegzunehmen. Für kontextabhängige Güter wie Munition oder Impfstoffe empfehlen sie Kapazitätsmärkte, in denen der Staat bereits in Friedenszeiten Optionen auf Produktionskapazitäten kauft, um die kurzfristige Substitutionsfähigkeit zu erhöhen. Handelskriege lassen sich nur vermeiden, wenn westliche Demokratien Abhängigkeiten beider Seiten berücksichtigen und gemeinsam handeln; Felbermayr und Braml plädieren daher für ein koordiniertes Sanktionsregime und eine „Wirtschafts‑NATO“.
Parallel dazu nimmt das Konzept Friendshoring Fahrt auf. Die USA setzen in ihrer Handelspolitik nicht mehr auf Effizienz, sondern auf Resilienz und nationale Sicherheit. Das bedeutet, Lieferketten zu „vertrauenswürdigen Ländern“ zu verlagern und neue Anreize an Sicherheitskriterien zu knüpfen. Deutschland hat mit einem Lieferketten‑Sorgfaltspflichtengesetz und einer China‑Strategie reagiert, um asymmetrische Abhängigkeiten zu reduzieren. Friendshoring darf jedoch nicht zu einem autarken Block führen; der AGI‑Beitrag warnt vor einer engen Definition, die Handel nur unter Demokratien erlaubt, und betont, dass auch autoritäre Staaten wie Vietnam verlässliche Partner sein können. Entscheidend ist, sensible Sektoren zu schützen, ohne den globalen Austausch zu zerstören.
Digitale Resilienz: Lehren aus dem Mittelstand
Resilienz zeigt sich nicht nur in der Außenwirtschaft, sondern auch im Umgang mit Krisen im Innern. Eine Studie des Beraternetzwerks Mind Digital und der Deutschen Telekom hat 54 Entscheidende aus mittelständischen Unternehmen befragt und fünf Resilienzfaktoren identifiziert:
- Anpassungsfähigkeit – agile Transformation bildet das Fundament für Wachstum.
- Handlungsschnelligkeit – digitale Prozesse steigern Geschwindigkeit und Profitabilität.
- Resonanzfähigkeit – eine digitale Kundenerfahrung sichert das Bestandsgeschäft.
- Smartness – digitale Geschäftsmodelle generieren Wachstum nah am Kerngeschäft.
- Entschlossenheit – digitale Diversifikation führt zu nachhaltigem Wachstumz.
Die Studie zeigt, dass über 70 % der befragten digitalen Vorreiter trotz Pandemie und Lieferengpässen wachsen konnten. Resilienz ist somit nicht abstrakt, sondern messbar. Für die Sicherheits‑ und Rüstungsindustrie bedeutet das: Prozesse und Geschäftsmodelle müssen digitalisiert, innovationsfreundlich und kundenorientiert gestaltet werden. Diese Faktoren sollten auch in Beschaffungs‑ und Ausbildungsprogramme der Bundeswehr einfließen.
Technologische Souveränität und zirkuläre Wirtschaft
Deutschlands Verteidigungsmodernisierung baut auf zwei großen Initiativen auf: dem European Sky Shield Initiative (ESSI), einem integrierten europäischen Luftverteidigungssystem, und dem NATO‑Drohnenwall, einer 1 850 km langen Kette unbemannter Systeme entlang der Ostflanked Beide Programme verbinden europäische und US‑Technologie (Arrow‑3, Patriot, IRIS‑T) und zeigen, dass strategische Autonomie nicht Autarkie bedeutet. Statt dessen sollen europäische Fertigungskapazitäten aufgebaut und gleichzeitig Interoperabilität mit den USA erhalten werden.
Mit dem Ziel, Abhängigkeiten zu verringern, plädieren Industrievertreter dafür, Sensordaten und Algorithmen in Europa zu halten und europäische Drohnen schnell in Serie zu fertigen. Dies erfordert Investitionen in Halbleiter, Optik, Künstliche Intelligenz und Materialwissenschaft. Die Zirkuläre Wirtschaft bildet dabei einen weiteren Pfeiler der Resilienz: Ein europäischer Rohstofffonds sollte Recycling und Rückgewinnung kritischer Materialien fördern, während harmonisierte Rahmenbedingungen für geschlossene Stoffkreisläufe die Versorgungssicherheit erhöhen – ein Ansatz, der aus der Entsorgungsbranche unterstützt wird. Auch die Landesverteidigung profitiert von einer Kreislaufwirtschaft, denn im Krisenfall können Lieferketten schneller ersetzt werden. Kreislaufwirtschaft zählt auch zum Schwerpunktthema des nächsten Green Monday am 15. September in Bochum – Teilnahme ist kostenlos.
Clausewitz und strategische Resilienz
Der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz beschreibt Krieg als vom Zufall geprägtes Wechselspiel zwischen Politik, militärischen Mitteln und öffentlicher Stimmung. Für Verteidiger ergeben sich strukturelle Vorteile: Kürzere Versorgungswege, psychologische Anreize zur Heimatverteidigung, die Unterstützung der Bevölkerung und die Möglichkeit, das Terrain vorzubereiten. Clausewitz weist damit auf Faktoren hin, die auch für eine resilienzorientierte Sicherheitspolitik gelten. Strategische Planung muss der Realität von Friktionen, Unsicherheit und rasch wechselnden Umständen standhalten – sonst bleibt sie wertlos.
In der modernen Sicherheitspolitik bedeutet das: Langfristige Strategie und kurzfristige Agilität dürfen nicht getrennt werden. Entscheidungen müssen in dem Bewusstsein getroffen werden, dass Pläne im Kontakt mit der Wirklichkeit ihre Gültigkeit verlieren können. Strategische Leitbilder sollten sich deshalb nicht an Ideologien, sondern an realen Machtverhältnissen, Technologietrends und gesellschaftlicher Unterstützung orientieren.
Handlungsempfehlungen
- Ökosysteme für Dual‑Use‑Innovation aufbauen: Bund, Länder und EU sollten Innovationscluster schaffen, in denen Start‑ups, KMU, Hochschulen, die Bundeswehr und große Rüstungsunternehmen kontinuierlich zusammenarbeiten. Die Cyberagentur und die Agentur für Sprunginnovationen (SPRIN-D) müssen hierfür ausreichend Mittel und Risikoappetit erhalten. Öffentliche Ausschreibungen sollten Konsortien vorschreiben, die sowohl große als auch kleine Anbieter einbinden.
- Beschaffung modernisieren: Dezentralisierte Beschaffungslimits, agile Projektbudgets und Testfelder für neue Technologien ermöglichen schnellere Lernzyklen. In Krisenzeiten müssen Ausnahmeregelungen greifen, die Verwaltungsvorschriften beschleunigen und gleichwohl Korruptionsschutz gewährleisten. Die Bundeswehr sollte nach dem Vorbild der Ukraine Innovationszyklen von Wochen akzeptieren, statt jahrelanger Planungsprozesse.
- Wirtschaftliche Resilienz stärken: Diversifizierung der Lieferketten durch Friendshoring, Rohstoff‑ und Energiepartnerschaften und strategische Vorräte. Konzentrationszölle können Abhängigkeiten in homogenen Gütern reduzieren, während Kapazitätsmärkte die kurzfristige Umstellung der Produktion sicherstellen. Eine Wirtschafts‑NATO sollte die Sanktionspolitik koordinieren und gemeinschaftliche Investitionsregeln definieren.
- Digitale Transformation nutzen: Verteidigungs‑ und Sicherheitsorganisationen sollten die fünf Resilienzfaktoren – Anpassungsfähigkeit, Handlungsschnelligkeit, Resonanzfähigkeit, Smartness und Entschlossenheit – in ihre Organisationsentwicklung integrieren. Dies bedeutet, Personal in agilen Methoden zu schulen, digitale Geschäftsmodelle zu entwickeln und Kunden‑ bzw. Bürgerbedürfnisse kontinuierlich zu erfassen.
- Strategische Souveränität und Kreislaufwirtschaft vorantreiben: Investitionen in europäische Schlüsseltechnologien (Halbleiter, KI, Quantentechnik) müssen mit Programmen zur Kreislaufwirtschaft verknüpft werden. Ein europäischer Rohstofffonds könnte Innovationen im Recycling fördern und so sowohl wirtschaftliche als auch militärische Versorgungssicherheit stärken.
- Institutionelle Reformen: Die geplante Nationale Sicherheitsrat unter Kanzler Merz sollte neben Außen‑, Verteidigungs‑ und Entwicklungspolitik auch wirtschaftliche Sicherheit und kritische Technologien in den Fokus rücken. Nur wenn diese Bereiche vernetzt gedacht werden, kann Deutschland geopolitische Spannungen meistern.
Die aktuellen geopolitischen Herausforderungen zwingen Deutschland, seine Sicherheitspolitik neu zu denken. „Dual Use“ ist keine moralische Grauzone, sondern ein strategischer Imperativ: Fortschrittliche KI‑Algorithmen und zivile Digitalplattformen werden Schlachtfeld und Wirtschaft gleichermaßen prägen. Resilienz bedeutet, Ungewissheit auszuhalten, Diversität zu fördern und gleichzeitig die Fähigkeit zu besitzen, schnell zu handeln. Eine nachhaltige Zeitenwende verbindet militärische Abschreckung mit wirtschaftlicher Stärke, technologischer Souveränität und gesellschaftlicher Widerstandsfähigkeit – alles andere wäre ein Dead End.
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