Wer einstellt, blickt selten in die Zukunft. Stattdessen suchen Personalverantwortliche nach dem, was ihnen bekannt vorkommt. Der Bewerber soll so aussehen, wie man sich selbst gerne sieht: vertraute Bildungswege, vertraute Stationen, vertraute Gesten. Es ist eine Kultur des Déjà-vu. Joachim Gutmann nennt dieses Muster „selektive Blindheit“. Sie produziert nicht Vielfalt, sondern Wiederholung, nicht Kreativität, sondern Stagnation.
Das Paradox: Unternehmen klagen lautstark über den Fachkräftemangel und schaffen gleichzeitig Strukturen, die unpassende Bewerber zuverlässig aussortieren – nicht weil sie ungeeignet wären, sondern weil sie anders sind. Wer nicht ins Raster passt, fällt durchs Netz.
Lebensläufe sind keine Landkarten
„Talente sind keine Lebenslaufwesen“, sagt Gutmann. Dieser Satz ist ein Angriff auf die Bürokratie der Personalarbeit. Denn Biografien verlaufen heute nicht mehr entlang einer geordneten Linie, sondern in Schleifen, Brüchen und Umwegen. Manche entdecken ihre eigentliche Begabung spät, andere wechseln Branchen, wieder andere suchen nach einer neuen Leidenschaft, nachdem die alte erschöpft ist.
Doch HR-Prozesse behandeln diese Vielgestaltigkeit wie einen Störfall. Quereinsteiger bleiben eine Ausnahme. Spätentwickler gelten als unberechenbar. Wer mit 55 noch lernen will, wird betrachtet, als wäre er ein Anachronismus. In Wahrheit aber sind es die Unternehmen, die anachronistisch handeln, weil sie Neugier mit Haltbarkeitsdaten verwechseln.
Politische Versäumnisse
Hier setzt Gutmanns Kritik an der Politik an. Seit Jahrzehnten, sagt er, schleppen wir dieselben Probleme mit: die schleppende Anerkennung ausländischer Abschlüsse, die fehlende Steuerlogik für Menschen, die über das Rentenalter hinaus arbeiten möchten, die unzureichende Vereinbarkeit von Beruf und Familie.
Diese Aufgaben liegen wie Stapel unbearbeiteter Akten in den Ministerien. Nichts davon ist neu. Schon vor 40 Jahren hat Gutmann über die Anerkennung von Bildungsabschlüssen aus dem Ausland geschrieben – der Artikel könnte heute noch einmal erscheinen, ohne dass ein Satz geändert werden müsste. Politik reagiert langsam, kleinteilig, mit kosmetischen Maßnahmen. Doch die Gesellschaft, für die sie eigentlich handeln sollte, hat sich längst weitergedreht.
Gesellschaft statt Nostalgie
Das Problem ist nicht allein administrativ. Es liegt auch in den Unternehmen selbst. Sie sind es gewohnt, Personalarbeit als eine Art nostalgische Verwaltung zu begreifen: Man rekrutiert nach alten Mustern, pflegt vertraute Strukturen, schützt das Gewohnte. Aber genau das ist die Sackgasse.
Gutmann fordert, HR müsse gesellschaftlich denken – nicht nur betriebswirtschaftlich. Das heißt: Personalpolitik darf nicht auf den eigenen Flur beschränkt bleiben. Sie muss die Realität einer alternden Gesellschaft, einer vielfältigen Einwanderung, einer flexibleren Arbeitswelt aktiv gestalten. Nur so lassen sich neue Beschäftigungsformen entwickeln: vom Reverse Mentoring, bei dem Jüngere die Älteren lehren, bis hin zu Offboarding-Kulturen, die scheidende Mitarbeiter nicht verabschieden, sondern in neue Rollen überführen.
Die ungenutzten Reserven
Deutschland redet seit Jahren über den Fachkräftemangel. Doch statt systematisch zu handeln, hält man an lieb gewonnenen Routinen fest. Dabei liegen die Reserven offen auf dem Tisch: Frauen, deren Erwerbsquote durch bessere Kinderbetreuung steigen könnte. Ältere, die jenseits der 65 arbeiten wollen, aber steuerlich bestraft werden. Migrantinnen und Migranten, die über Qualifikationen verfügen, die nur deshalb wertlos sind, weil die Bürokratie sie nicht anerkennt. Und nicht zuletzt Gründerinnen, die in Deutschland vor einer Wand aus Hürden stehen, wenn sie Unternehmen aufbauen wollen.
Gutmann verweist auf die Schweiz – nicht, weil sie das Paradies wäre, sondern weil sie zeigt, dass vieles möglich ist, wenn politischer Wille existiert. Deutschland dagegen bleibt im Stillstand gefangen: man sieht die Probleme, benennt sie, schreibt Studien dazu – und geht dann zur Tagesordnung über.
Vielfalt oder Rückschritt
Besonders deutlich wird die Dringlichkeit beim Thema Diversität. In den USA zeichnet sich ein Rückschritt ab: Diversity-Programme werden zurückgefahren, Quereinsteiger und Minderheiten geraten erneut ins Abseits. Diese Tendenz schwappt bereits nach Europa über. In Konzernzentralen ist zu spüren, wie Führung wieder autoritärer, uniformer, hierarchischer wird.
Wenn Deutschland diesem Trend folgt, sind alle Bemühungen um qualifizierte Einwanderung und die Öffnung für Quereinsteiger vergeblich. Statt zukunftsfähige Arbeitsmärkte zu schaffen, droht dann eine Regression in die alten Muster. Vielfalt wäre dann nur noch ein Schlagwort für Sonntagsreden, nicht für Montagmorgen.
Hoffnung im Mittelstand
Und doch gibt es Gegenbilder. Gutmann erzählt von Familienunternehmen, die an Töchter übergeben werden und plötzlich einen frischen Wind erleben: neue Geschäftsmodelle, digitale Experimente, KI-gestützte Losgröße-1-Produktion. Dort, wo kein Traditionsfetisch regiert, sondern Neugier und Pragmatismus, entstehen die innovativen Formen von Arbeit.
Gerade der Mittelstand – oft belächelt – könnte so zum heimlichen Motor einer neuen Personalpolitik werden. Nicht die großen Konzerne, die in starren Hierarchien verharren, sondern die kleinen und mittleren Betriebe, die sich schneller öffnen für Selbstständige, Monopreneure, Freelancer und für Mitarbeiterinnen, die jenseits des 50. Lebensjahres ihre zweite Karriere starten.
Ausblick Köln
Wenn die Zukunft Personal Europe im September ihr 25-jähriges Jubiläum feiert, wird es nicht reichen, die Vergangenheit zu feiern. Entscheidend wird sein, ob das Personalwesen den Mut hat, sich selbst infrage zu stellen. Die Bühne in Köln wird zum Labor: erfahrene Führungskräfte treffen auf junge Gestalter, Routinen auf Experimente.
Die Frage ist nicht, ob wir Fachkräfte finden. Die Frage ist, ob wir endlich lernen, sie nicht zu übersehen. Talente wachsen nicht in den Spalten von Excel-Tabellen. Sie entstehen im Unerwarteten, im Widersprüchlichen, im Offenen. Wer sie dort nicht erkennt, wird sie verlieren – an andere Gesellschaften, an andere Märkte, an andere Zukünfte.
Terminhinweis
Welche Thesen haben sich bewahrheitet, welche Konzepte sind gescheitert, welche Weichenstellungen braucht HR heute? Deine Impulse aus der Time Capsule fließen live in die Diskussion ein. Termin: 9.–11. September in Köln. Sei dabei, wenn HR-Geschichte geschrieben wird.
