Defence‑Tech Monitoring – Ausgabe 2: Massive Drohnenangriffe und Europas Schutzpläne – Drohnenwall, OPLAN DEU & KRITIS im Fokus

von Gunnar Sohn
10. Oktober 2025

Massive Drohnen‑ und Raketenangriffe auf die Ukraine

In der Nacht zum 10. Oktober setzte Russland seine Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung in beispielloser Stärke fort. Nach Angaben der ukrainischen Regierung wurden 465 Angriffsdrohnen und 32 Marsch‑ und Ballistikraketen abgefeuert. Die Luftabwehr schoss 405 Drohnen und 15 Raketen ab – trotzdem trafen viele Geschosse Kraftwerke, Umspannwerke und Wohngebäude. In neun Regionen fiel vorübergehend der Strom aus; rund 854 000 Verbraucher waren ohne Energie, und ein siebenjähriger Junge sowie mindestens 20 weitere Menschen kamen ums Leben. In Kiew war die U‑Bahn stundenlang außer Betrieb, Wasser wurde an Notverteilpunkten ausgegeben und etwa zwei Millionen Menschen hatten zeitweise keinen Zugang zu Leitungswasser.

Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnete die Energie‑ und Infrastrukturangriffe als russischen Terror und forderte die USA, Europa und die G7 auf, entschlossenere Hilfe zu leisten. Nicht „Schaufensteraktionen“, sondern zusätzliche Luftabwehrsysteme und die konsequente Durchsetzung der Sanktionen seien nötig, um die Energieversorgung zu schützen. Die Angriffe verstärken den Handlungsdruck für neue Abwehrsysteme, denn die Ukraine kann solche Massenangriffe mit ihren bestehenden Ressourcen kaum bewältigen.

EU‑Reaktion und „Drohnenwall“

Hybride Drohnenvorfälle in Europa

Auch in Westeuropa häufen sich Drohnenvorfälle über Flughäfen, Militärbasen und Energieanlagen. In Kopenhagen musste der Flughafen am 22. September wegen UAS‑Sichtungen für mehrere Stunden schließen, und dänische Luftwaffenstützpunkte wurden danach wiederholt durch Drohnen alarmiert. Ähnliche Meldungen gibt es aus Schweden, Norwegen, Deutschland und Finnland. Ermittlungen deuten auf einen „fähigen Akteur“ hin, der diese grauzonigen Angriffe organisiert – möglicherweise mit Verbindung zu russischen Schiffen und paramilitärischen Gruppen.

Treffen in Brüssel und europäischer „Drohnenwall“

Am 26. September trafen sich zehn Verteidigungsminister in Brüssel, um eine europäische Antwort zu finden. Die EU‑Kommission diskutierte dabei die Errichtung eines „Drohnenwalls“ – eines aus Sensoren und Abfangsystemen bestehenden Netzwerks entlang der Ostgrenze, das vor allem auf Frühwarnung und Intervention ausgerichtet ist. Die Chatham‑House‑Analyse betont, dass solche Systeme nur im Verbund mit einem breiten Spektrum an C‑UAS‑Technologien funktionieren: von Netzdrohnen über elektromagnetische Störsender und RF‑Takeover‑Geräte bis hin zu Lasern und konventioneller Munition.

Die Europäische Parlament stützte diese Pläne am 9. Oktober in einer Resolution mit großer Mehrheit. Die Abgeordneten bewerteten russische Drohnen‑ und Jet‑Überflüge über Dänemark, Schweden, Norwegen, Polen, Estland und Rumänien als hybride Kriegsführung und forderten ein koordiniertes, geeintes Vorgehen – notfalls auch das Abschießen von Eindringlingen. Der Beschluss sieht neben der „Drohnenwall“ auch die Einrichtung eines „Eastern Flank Watch“ vor und fordert ein europäisches Verteidigungsunion, gemeinsame Beschaffungen und den Ausbau der PESCO‑Programme sowie verschärfte Sanktionen gegen Russland und dessen Partner. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, dass die Abwehr nicht nur die östliche, sondern jede Grenze Europas schützen müsse – ein 360‑Grad‑Ansatz, der den gesamten Luftraum und die Seewege überwacht.

Die Umsetzung bleibt jedoch umstritten: Osteuropäische Staaten drängen auf schnelle Realisierung, während Frankreich und Deutschland vor hohen Kosten und technischen Risiken warnen. Südliche EU‑Länder fordern zudem, die Mittelmeerflanke stärker zu berücksichtigen.

Deutsche Beschaffungen: Skyranger 30 und Eurofighter

Die Regierung in Berlin reagiert mit großen Beschaffungsprogrammen auf das neue Bedrohungsbild. Laut Reuters plant das Verteidigungsministerium die Bestellung von über 600 Skyranger‑30‑Kurzstreckenflugabwehrsystemen von Rheinmetall für einen Betrag von mehr als 9 Mrd. €. Bislang wurden 19 Systeme bestellt; Verteidigungsminister Boris Pistorius bestätigte jedoch, dass innerhalb der nächsten Monate mehrere hundert Systeme beauftragt werden sollen. Die Skyranger 30 auf Boxer‑Fahrgestell können mit Air‑Burst‑Munition, Raketen und künftig Laserwaffen ausgerüstet werden und sind ein Kernstück der deutschen Drohnenabwehr.

Zudem hat der Bundestag am 9. Oktober sieben Großprojekte im Wert von rund 4 Mrd. € gebilligt: Dazu gehört der Kauf von 20 Eurofighter‑Typhoon (Tranche 5) mit AESA‑Radarsystemen und elektronischer Kriegsführung für 3,75 Mrd. €. Weitere Mittel finanzieren Simulatoren zur Pilotenausbildung, EloKa‑Upgrades, Armor‑Piercing‑Munition (27 × 145 mm) für Bordkanonen und Missionsboote sowie Kommunikations‑ und Minenjagdsysteme für die Marine. Diese Projekte sollen Deutschlands Beitrag zur NATO stärken und Kapazitätslücken schließen.

Darüber hinaus prüfen Deutschland und die Schweiz eine gemeinsame Beschaffung des Patriot‑Flugabwehrsystems im Rahmen der European Sky Shield Initiative (ESSI). Die Minister Pistorius und Martin Pfister erörtern eine koordinierte Beschaffung, Ausbildung und Wartung, um Kosten zu senken und die Interoperabilität zu erhöhen. Trotz ihrer Neutralität beteiligt sich die Schweiz verstärkt an europäischen Rüstungsprojekten; neben den Patriot‑Systemen planen beide Länder die gemeinsame Beschaffung von RCH 155‑Haubitzen und eine Beteiligung am F‑35A‑Programm.

Start‑up‑Neuigkeiten und Wagniskapital

Der europäische Defence‑Tech‑Sektor bleibt dynamisch. Das litauische Start‑up Luna Robotics hat im Oktober 1,08 Mio. € frisches Kapital eingesammelt, um seine LunaCam auf den EU‑ und US‑Markt zu bringen. Die Kamera bietet dank Infrarot‑Emitter und On‑board‑Bildverbesserung eine klare Tag‑und‑Nacht‑Sicht und ist bereits im ukrainischen Krieg getestet worden. Finanziert wird die Expansion von Coinvest Capital, Plug & Play EMEA Ventures und privaten Investoren; das Geld fließt in Serienfertigung und Partnerschaften.

Einen weiteren Impuls liefert der neue Venture‑Capital‑Fonds Verne Capital. Der Fonds mit 100 Mio. € Kapital möchte ein Drittel in Start‑ups aus dem DACH‑Raum und rund ein Viertel gezielt in ukrainische Defence‑Tech‑Firmen investieren. Hinter Verne Capital stehen erfahrene Branchenköpfe; der Fonds will nicht nur Geld, sondern auch strategische Beratung und Zugang zu Netzwerken bieten, um Europas technologische Souveränität zu stärken.

OPLAN Deutschland und Schutz kritischer Infrastruktur

Integrierter Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU)

Als Konsequenz aus dem russischen Angriffskrieg hat Deutschland den Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU) entwickelt. Er soll den Übergang von Friedenszeiten über hybride Bedrohungen bis hin zu einem möglichen Bündnisfall abbilden und verbindet militärische und zivile Maßnahmen. Kern des Plans ist die Erkenntnis, dass Deutschland im Krisenfall kein Frontstaat, sondern ein logistischer Knotenpunkt für die Verlegung und Versorgung von NATO‑Kräften sein wird. Daher definiert der OPLAN präzise Abläufe zur Verlegung alliierter Truppen, zur Sicherung von Transportwegen, Energie‑ und Gesundheitseinrichtungen und legt die Rollen von Bundeswehr, Ministerien, Bundesländern, Polizei und Katastrophenschutz fest. Das Dokument ist vertraulich und wird in regelmäßigen Aktualisierungen fortgeschrieben; es verfolgt einen ressort‑übergreifenden Ansatz, um im Ernstfall schnell und gesetzeskonform reagieren zu können.

KRITIS‑Dachgesetz und NIS2‑Umsetzung

Parallel dazu erarbeitet die Bundesregierung ein KRITIS‑Dachgesetz zur Umsetzung der EU‑NIS2‑Richtlinie. Die neue Regelung erweitert die Pflichten für Betreiber kritischer Infrastrukturen (u. a. Energie, Wasser, Transport, Gesundheit, Finanzwesen, Telekommunikation) und führt ein einheitliches Rahmengesetz ein. Unternehmen und Einrichtungen, die eine große Zahl von Menschen versorgen – in der Regel ab 500 000 Personen – werden als wesentliche Einrichtungen eingestuft und unterliegen strengen Vorgaben für Cyber‑ und physischen Schutz, Risikomanagement und Meldepflichten. Damit sollen Sabotage, Cyberangriffe und Ausfälle besser abgewehrt und eine engere Verzahnung zwischen staatlichen Stellen und privaten Betreibern erreicht werden. Das Gesetz soll 2025 in Kraft treten und den Schutz der Versorgungssysteme verbessern.

Synergien für Resilienz

Der OPLAN und das KRITIS‑Dachgesetz ergänzen sich: Während der OPLAN den militärischen und zivilen Gesamtverteidigungsrahmen definiert, sorgt das neue KRITIS‑Gesetz dafür, dass essentielle Einrichtungen robust und widerstandsfähig gegen Angriffe und Ausfälle werden. Gemeinsam bilden sie das Fundament eines integrierten Sicherheitsansatzes, der Logistik, Energieversorgung, Gesundheitswesen und digitale Netze in die Verteidigungsplanung einbezieht und Deutschland auf hybride Bedrohungen vorbereitet.

Analyse und Stimmen

  • Bedrohung durch massenhafte Drohnenangriffe: Die jüngste russische Offensive zeigt, wie gefährlich Massenangriffe aus Drohnen und Raketen sind. Selbst wenn mehr als 85 % der Angreifer abgefangen werden, können verbleibende Treffer dramatische Schäden anrichten und die Strom‑ und Wasserversorgung lahmlegen. Die Ukraine fordert daher mehr Patriot‑, IRIS‑T‑ und Skyranger‑Systeme und will ihre eigene Drohnenproduktion und elektronische Kriegsführung weiter ausbauen.
  • Hybride Kriegsführung in Europa: Der steigende Einsatz von Drohnen in europäischen Lufträumen wird als hybride Bedrohung wahrgenommen. Expertinnen und Experten warnen, dass billige Quadrokopter und offene Software auch von kriminellen Akteuren genutzt werden können. Nur ein Netz aus Sensoren, schnellen Entscheidungsprozessen und flexiblen Abwehrmitteln kann Angriffe verhindern.
  • Politische Kontroversen: Während das EU‑Parlament ein starkes Signal sendet, bleiben die Mitgliedstaaten gespalten. Die Kosten für einen umfassenden Drohnenwall sind hoch; manche Regierungen fürchten zudem, dass ein aggressives Abschussmandat russische Propaganda befeuern könnte. Dennoch unterstreicht die Debatte, dass Europa seiner Luftverteidigung Priorität einräumen muss, um glaubwürdig abschrecken zu können.
  • Innovationsdruck: Die enorme Zahl russischer Drohnen und Marschflugkörper zwingt Europa zu einem Technologiewettlauf. Neben großen Programmen wie Skyranger 30 und Eurofighter spielen Start‑ups eine zentrale Rolle, indem sie neue Sensortechnologien, autonome Abfangdrohnen und Software‑Plattformen entwickeln. Die jüngsten Finanzierungsrunden zeigen, dass Investoren an ein Wachstum des Defence‑Tech‑Sektors glauben und die Ukraine als Testfeld für neue Lösungen nutzen.

Ausblick

  • Winteroffensive und Energiekrieg: Russland wird wahrscheinlich weiterhin gezielt Energieanlagen angreifen, um der Ukraine im Winter zu schaden. Es ist zu erwarten, dass Kiew und seine Partner Gegenmaßnahmen (z. B. Angriff auf russische Öl‑ und Gasinfrastruktur) diskutieren und die Stärkung der Luftabwehr priorisieren.
  • EU‑Gipfel Ende Oktober: Beim Europäischen Rat am 23.–24. Oktober wird der „Drohnenwall“ erneut auf der Agenda stehen. Beobachter erwarten, dass Finanzierung und Zeitplan konkretisiert werden. Bis dahin könnten weitere Länder – inklusive Nicht‑EU‑Staaten wie die Schweiz – ihre Beteiligung signalisieren.
  • Beschaffungsentscheidungen in Deutschland: In den kommenden Wochen wird der Bundestag über den endgültigen Skyranger‑Rahmenvertrag abstimmen. Parallel dürften Gespräche mit der Rüstungsindustrie über Lieferketten, Produktionskapazitäten und Exportoptionen beginnen.
  • Start‑up‑Pipeline: Neben Luna Robotics werden in den nächsten Monaten weitere europäische Defence‑Tech‑Start‑ups Finanzierungsrunden abschließen. Das Monitoring behält insbesondere Unternehmen im Bereich elektronische Kriegsführung, Anti‑Drohnen‑KI und Schwarm‑Technologie im Blick.

Der Zeitraum Mitte Oktober 2025 ist geprägt von einer dramatischen Eskalation des Drohnenkriegs gegen die Ukraine, der sowohl militärische als auch zivile Ziele trifft. Gleichzeitig führt die wachsende Bedrohung durch unbemannte Systeme zu europäischen Initiativen wie dem Drohnenwall und zu massiven Beschaffungsprogrammen in Deutschland. Neben großen Playern gewinnen Agilität und Innovation von Start‑ups an Bedeutung, um die Herausforderungen der hybriden Kriegsführung zu meistern. Für Politik und Industrie gilt: Geschwindigkeit, Kooperation und eine klare Sicherheitsstrategie sind entscheidend, um den technischen Vorsprung gegenüber Aggressoren zu sichern.

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