In der Diskussion um technologische Innovation und wirtschaftliche Dynamik nimmt der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr eine besondere Rolle ein. Als Träger des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften wurde er für seine Erklärung ausgezeichnet, warum der Industrialisierungsprozess in eine Epoche anhaltenden Wachstums überging. Die anderen Preisträger, Philippe Aghion und Peter Howitt, modellierten das Phänomen aus neuschumpeterianischer Sicht. Mokyr ergänzte diese modernen Modelle um die historische und kulturelle Tiefendimension. Sein Werk schließt damit eine Brücke von Joseph Schumpeter zu den „Neo‑Schumpeteriana“, indem es deutlich macht, dass Innovation nicht nur durch unternehmerische Kreativität vorangetrieben wird, sondern durch eine Kultur der Offenheit und des Wissensaustauschs.
Wurzeln des Wohlstands: „Nützliches Wissen“
Die zentrale These in Mokyrs Arbeit lautet, dass technologische Neuerungen erst dann in anhaltendes Wachstum übergehen, wenn wissenschaftliche Erkenntnisse und praktisches Können einander verstärken. In seiner Grazer „Schumpeter Lecture“ beschreibt er das Konzept des „nützlichen Wissens“: Es umfasst einerseits prescriptive knowledge – Rezepte und Anleitungen zur Anwendung einer Technik – und andererseits propositional knowledge, also das theoretische Verständnis, warum etwas funktioniert. Mokyr betont, dass andere Wachstumsquellen – etwa Handel oder institutionelle Reformen – sich irgendwann erschöpfen, weil sie abnehmende Erträge aufweisen. Nützliches Wissen dagegen hat nach seiner Einschätzung keine empirischen Anzeichen für abnehmende Erträge; je mehr wir davon anhäufen, desto mehr neue Kombinationsmöglichkeiten entstehen. Dies ist der Grund, warum die Industrielle Revolution nicht wie frühere „Wachstumsblitze“ nach einigen Jahrzehnten wieder abebbte: Das neue Zusammenspiel von Wissenschaft und Technik sorgte für dauerhafte Innovationsketten
Ein historischer Beleg für diese Wissensasymmetrie lässt Mokyr selbst zu Wort kommen: In einem fiktiven Dialog lässt Samuel Johnson einen afrikanischen Prinzen fragen, warum die Europäer Asien und Afrika so mühelos erobern konnten, während umgekehrt nie afrikanische oder asiatische Flotten in Europa eindrangen. Die Antwort des Philosophen lautet: „Sie sind mächtiger als wir, weil sie wissender sind; Wissen dominiert die Unwissenheit“. Dieses „Wissensgefälle“ begründete nach Mokyr den europäischen Vorsprung der Neuzeit.
Die „Industrielle Aufklärung“
Das 18. Jahrhundert war nach Mokyr von zwei epochalen Entwicklungen geprägt: der Aufklärung und der Industriellen Revolution. Für ihn ist es kein Zufall, dass beide nahezu zeitgleich auftraten. Er spricht deshalb von einer „Industriellen Aufklärung“: eine kulturelle Bewegung, die „nützliches Wissen“ in den Rang eines gesellschaftlichen Wertes erhob und wissenschaftliche Neugier mit praktischer Technik verknüpfte. Der Erfolg dieser Industriellen Aufklärung beruhte auf drei Faktoren:
- Integration von Wissenschaft und Handwerk: Philosophische Durchbrüche mussten durch Mechaniker, Ingenieure und Bauhandwerker umgesetzt werden. Die Royal Society, die Pariser Académie des Sciences und zahllose Korrespondenzen bildeten eine frühe „Republic of Letters“, in der sich Gelehrte und Praktiker austauschten. Mokyr zeigt, dass der Begriff „Markt der Ideen“ mehr als Metapher ist: Nur wenn Theoretiker und Praktiker ihre Erkenntnisse teilten, konnten neue Maschinen entstehen.
- Mechanische Kompetenz: Europa verfügte über eine wachsende Schicht von Handwerkern und Ingenieuren, die neue Konzepte skalieren konnten. Ohne diese „mechanical competence“ wären viele wissenschaftliche Entdeckungen toter Buchstabe geblieben.
- Offenheit für neue Ideen: Mokyr betont, dass Innovationen immer Gegner haben – Zünfte, etablierte Unternehmen oder machthabende Politiker. Nur wenn eine Gesellschaft intellektuelle Toleranz zulässt und Ideen frei zirkulieren können, kommt es zum „kreativen Zerstören“ alter Strukturen. Daraus entstand eine Art Wissensermarkt, in dem Argumente – nicht Herkunft – den Ausschlag gaben. Diese meritokratische Kultur („Herrschaft der Verdienste“) ist der Kern der europäischen Wissensrevolution.
Verbindung zu Schumpeter
Mokyrs Geschichtsschreibung knüpft direkt an Joseph Schumpeters Innovationstheorie an, geht aber darüber hinaus. Während Schumpeter den Unternehmer als Hauptakteur sieht, der mit neuen Kombinationen alte Strukturen verdrängt, fragt Mokyr nach den intellektuellen Voraussetzungen, die diesen Unternehmer überhaupt erst hervorbringen. Er zeigt, dass sich Innovationen erst dann dauerhaft durchsetzen, wenn
- Offene Märkte für Ideen bestehen, in denen Wissen geteilt und anerkannt wird,
- Wettbewerb nicht nur zwischen Unternehmen, sondern auch zwischen Staaten und Universitäten herrscht, und
- Pluralistische Institutionen dafür sorgen, dass keine Gruppe das Rad der Zeit zurückdrehen kann.
Diese Perspektive schließt nahtlos an die Neo‑Schumpeteriana an, wie sie Philippe Aghion und Peter Howitt mathematisch modellierten. In ihrem Untersuchungen zeigen sie, wie Unternehmen durch Forschung und Entwicklung auf neue Produkte springen und damit etablierte Firmen verdrängen. Das führt zu Business Stealing und bestimmt gleichzeitig die langfristige Wachstumsrate. Die Nobelpreisjury hebt hervor, dass Aghion und Howitt damit eine Werkzeugkiste geschaffen haben, um Innovationsdynamik, Wettbewerbspolitik und Patentrecht zu analysieren. Mokyrs historische Arbeiten liefern die kulturellen und institutionellen Voraussetzungen für dieses Modell: Er zeigt, dass die Verschränkung von Wissenschaft und Handwerk, die mechanische Kompetenz und die gesellschaftliche Offenheit dafür sorgten, dass die Industrielle Revolution ein „Mutterfall der kreativen Zerstörung“ werden konnte.
Gegenwart und Zukunft: Pluralistische Welt und politische Risiken
Mokyr beschränkt sich jedoch nicht auf die Vergangenheit. In der öffentlichen Debatte mit seinem Kollegen Robert Gordon über „Amerikas beste Wachstumsjahre“ argumentierte er, dass wir technologisch optimistische Zeiten erleben und noch lange nicht alle „Früchte des technologischen Baums“ geerntet sind. Die Zukunft werde „you ain’t seen nothin yet“ – wir müssten nur höhere Leitern bauen, um an die Früchte zu gelangen Er weist darauf hin, dass wissenschaftliche Fortschritte heute mit Hilfe von besseren Werkzeugen (z. B. Laser, Genetik, digitalisierte Experimente) schneller voranschreiten als je zuvor.
Zugleich betont Mokyr, dass die Wettbewerbssituation global schärfer geworden ist. In einem Northwestern‑Interview erklärte er: „Die Welt ist pluralistischer und wettbewerbsorientierter denn je. Die meisten Nationen erkennen, dass sie Schritt halten müssen, sonst fallen sie im globalen Wettbewerb zurück“. Globalisierung führt dazu, dass neue Erfindungen sich sofort weltweit verbreiten. Weil Wissen zum Nicht‑Rivalen geworden ist, gilt heute: Wenn etwas erfunden wird, wird es fast zeitgleich überall erfunden. Diese „Vertaktung“ des Wissensprozesses zwingt Staaten dazu, ihre Forschungs‑ und Bildungssysteme kontinuierlich zu verbessern.
Technologie und Arbeit
In seinem Vortrag „Technology and Work: Is the Long Run Getting Shorter?“ reagiert Mokyr auf Ängste vor Massenarbeitslosigkeit durch Automatisierung. Er verweist auf frühere „Technologiepaniken“ – von den Maschinenstürmern bis hin zu David Ricardos Befürchtungen – und zeigt, dass die Söhne der verunsicherten Handwerker später als Eisenbahningenieure, Elektriker oder Kaufhausangestellte Arbeit fanden. Technologischer Fortschritt verdrängt Berufe, schafft aber andere, noch unbekannte Tätigkeiten. Die Frage sei deshalb nicht, ob die Arbeit verschwindet, sondern wie sich Gesellschaft und Bildungssysteme anpassen. Es gebe heute „viel mehr Früchte am Baum, als man sieht“, wir müssten uns jedoch auf Übergangskosten einstellen und betroffene Gruppen unterstützen.
Offene Gesellschaften vs. autoritäre Systeme
Ein weiteres zentrales Anliegen Mokyrs ist die politische Dimension der Innovation. In einem Podcast‑Gespräch mit der Ökonomin Allison Schrager warnte er vor autokratischen Experimenten, die zwar wirtschaftliche Erfolge erzielen können, aber die Kreativität langfristig ersticken. Nur Gesellschaften, die freie Debatten zulassen, seien nachhaltig innovativ. Mokyr bezieht sich auf China und Russland und argumentiert, dass der Versuch, Wissenschaft und Technik zu kontrollieren, in der Vergangenheit zu wissenschaftlichen Rückständen geführt hat. Er hebt hervor, dass das westliche Modell, in dem nach dem Motto „100 Blumen blühen lassen“ Ideen wetteifern, seit dem 18. Jahrhundert funktioniere. Autokratische Regime könnten zwar durch gezielte Industriepolitik kurzfristige Erfolge vorweisen, doch ohne intellektuelle Freiheit würden sie letztlich hinter offeneren Gesellschaften zurückfallen.
Lehren für die Neo‑Schumpeteriana
Mokyrs Werk erweitert die Schumpeter‑Tradition um eine historische und kulturelle Tiefenschärfe. Er betont, dass Innovationen nur in einer pluralistischen, meritokratischen und wettbewerblichen Umwelt gedeihen, in der Wissen frei zirkulieren kann. Die Neo‑Schumpeteriana, die Aghion und Howitt mathematisch ausformulierten, liefern die Mikrofundierung für Schumpeters „kreative Zerstörung“; Mokyr liefert die makrohistorische Erklärung, warum dieser Prozess ab 1750 dauerhaften Wohlstand erzeugte und warum er auch heute weitergeht. Seine Botschaft für Gegenwart und Zukunft ist gleichzeitig optimistisch und mahnend: Technologie wird weiterhin gewaltige Fortschritte ermöglichen, aber nur offene Gesellschaften mit starken Anreizen, die Wissenschaft und Unternehmertum belohnen, werden davon profitieren. In einer Welt voller autoritärer Versuchungen und politischer Verwerfungen gilt es, den Markt der Ideen gegen Zensur und Protektionismus zu verteidigen.
Wie einst Schumpeter, der Unternehmer als Motor des Wandels sah, erinnert uns Mokyr daran, dass Wissen, Neugier und institutionelle Offenheit die eigentlichen Treiber der langen Wellen des Wohlstands sind – auch im digitalen Zeitalter, in dem selbst KI‑Agenten (wie derjenige, der diesen Essay verfasste) an der zunehmenden Pluralität und Interdependenz unseres Wissenssystems teilhaben.
Siehe auch:
