Servicewelt 2015: Das Ende der Warteschleife

von Team Redaktion
2. Juni 2010
Brian Solis im Smarter Service Talk mit Bernhard Steimel (Audio)

Nils Müller, Ceo & Founder TrendONE, im Smarter Service Talk

VOICE Community: Herr Müller, welche Serviceinnovationen erwarten uns denn in den nächsten fünf Jahren?

Nils Müller: Wir sprechen derzeit viel vom Outernet. Im Outernet verschmelzen Produkte und Services in einer intelligenten Einheit, die vom Kunden ganzheitlich als Markenerlebnis wahrgenommen wird. Das Internet explodiert quasi aus dem Computer in die reale Welt. Vor allem auf Produkte, die wir täglich nutzen. Ein BMW z.B. wird direkt mit dem Internet verbunden sein – und ist ja auch heute schon mit dem BMW ConnectedDrive.

Dabei sitzen Sie im Auto, drücken auf einen Knopf und sagen: „Ich suche ein Drei-Sterne-Restaurant, in dem ich hervorragend Fisch essen kann.“ Und dann bekommen Sie direkt den Support. Das ist das Outernet: Man muss gar keinen Computer mehr starten, sondern das Produkt selbst, in diesem Fall das Auto, ist direkt an das Internet angebunden.

So werden in Zukunft über das Web of Things, das Internet der Dinge, alle Produkte internetfähig. Ob das nun Ihre Waschmaschine ist, Ihre Kaffeemaschine oder Ihr Auto – alles ist miteinander vernetzt. Damit werden Produkte zu hybriden Produkten, die unmittelbar mit Serviceleistungen verknüpft sind. Jedes Produkt hat einen direkten Link zur Serviceleistung, zum Feedback, zur Kommunikation und zum Dialog.

VOICE Community: Wie verändern derartige Innovationen die Kundeninteraktion, also die Möglichkeiten für den Kunden mit dem Unternehmen in Kontakt zu treten und umgekehrt?

Nils Müller: Bei meinem Laptop ist das eigentlich ganz ähnlich wie bei BMW ConnectedDrive. Ich habe ein IBM ThinkPad Lenovo Laptop. Das Gerät hat auch eine Service-Taste. Wenn ich also einen Servicebedarf habe, drücke ich diese Taste und bin direkt verbunden und kann meine Frage stellen. Und genau das meine ich. Das ist eigentlich das Web of Things, das Internet der Dinge, das die Touchpoints erweitert. Vorher dominierte bei Serviceleistungen der Mensch-zu-Mensch-Kontakt. Durch das Web of Things haben wir jetzt Mensch-zu-Objekt- bzw. Mensch-zu-Produkt-Interaktion.

VOICE Community: Das Outernet ist eine Service-Innovation oder ist das für Sie DIE Service-Innovation?

Nils Müller: Das ist schon eine ganz zentrale Innovation. Eine andere ist natürlich die weitere Personalisierung durch das Web3.0, also das Semantische Internet. Das Internet wird smart, wodurch viel automatisiert laufen kann.

VOICE Community: Können Sie Web3.0 bzw. Semantisches Internet einmal kurz erläutern?

Nils Müller: Klar, gerne. Es gibt beispielsweise Suchmaschinen, bei denen Sie direkt Fragen eingeben können. Sie können also z.B. fragen: „Wie ist die beste Verbindung von Paris nach London?“ Geben Sie das bei Google ein, erhalten Sie eine Ergebnisliste, die Ihnen wenig weiterhilft. Wenn Sie das aber in intelligenten Suchmaschinen wie z.B. Powerset eingeben, dann bekommen Sie eine intelligente Antwort.

VOICE Community: Sie meinen die so genannten „Antwortmaschinen“?

Nils Müller: Die Antwortmaschinen, genau. Das ist das semantische Internet, das Smart Web. Das kann natürlich einmal die Semantik benutzen, aber auch den Soziograph, also das Netzwerk des Users. Da gehen wir jetzt in Richtung – und das ist die nächste Service-Innovation – Cloud Computing und Wisdom of Crowds, quasi Wikipedia für Serviceanfragen. Mittlerweile läuft es im Internet ja auch schon so: Wenn ich ein Problem mit meinem Sony Ericsson Telefon habe, dann gehe ich erst einmal ins Internet und versuche da schon einmal eine Antwort zu finden.

VOICE Community: Vor zehn Tagen habe ich den Herrn Schirrmacher von der FAZ gehört, der über das Echtzeitinternet philosophierte. Und er erzählte von einem Gespräch, das er mit Eric Schmidt von Google geführt hat, bei dem er sagte: „Wenn so viele Leute ihre digitalen Spuren in Echtzeit hinterlassen, dann lassen sich daraus auch entsprechend Prognosen ableiten.“ Das heißt, die Möglichkeit auch Fragen vorwegzunehmen, z.B.: Wo sind denn meine Freunde heute Abend? Oder die Frage: Wird das nächste Britney Spears Konzert gut werden? Oder: Muss ich heute Abend mit Stau rechnen auf meiner Strecke? Also eine wirklich prognostische Wirkung.

Nils Müller: Prognose ist wichtig – Echtzeit ist überhaupt ein ganz wichtiges Thema. Im Internet wie im Outernet funktioniert natürlich vieles in Echtzeit. Und das ist eine ganz entscheidende Service-Innovation. Denn wenn Service dort, in den digitalen Medien, in Echtzeit funktioniert, muss er in Callcentern natürlich auch in Echtzeit funktionieren, damit man wettbewerbsfähig bleibt. Das ist eigentlich das Ende der Warteschlange. Denn dem User geht es immer darum: Ich hab jetzt ein Problem und ich brauche Hilfe. Im Endeffekt nimmt er natürlich die Hilfe in Anspruch, die mit der höchsten Geschwindigkeit und in bester Qualität geliefert wird. Eine Service-Nummer ruft er also nur an, wenn diese da auch mithalten kann.

VOICE Community: Dieses Phänomen sehen wir heute schon in vielen Bereichen: Ein Kunde ruft erst dann an, wenn alles andere nicht gefruchtet hat. Er hat also schon versucht sich über Foren oder die Webseite und dergleichen zu informieren und das hat alles nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Erst dann wendet er sich direkt an den Anbieter. Für viele Callcenter besteht die Herausforderung jetzt darin, mit diesen informierten Kunden auf Augenhöhe zu kommunizieren. Ein wichtiger Punkt ist deshalb: Wie baue ich eigentlich für mein Unternehmen eine Wissensbasis auf, um Waffengleichheit zu schaffen.

Nils Müller: Genau. Und da müssen Marken zu Helfern werden. Wir nennen das „Brandship“, in Anlehnung an „friendship“. Die Marke wird zum Freund. Und das ist ein Freund, den man jederzeit gerne anruft, mit dem man auf Augenhöhe – genau wie Sie das sagen – sprechen kann, mit dem man sich austauschen kann und der einem immer weiterhilft, nach bestem Wissen und Gewissen.

VOICE Community: Über welche Kanäle wird denn die Interaktion Ihres Erachtens nach zukünftig maßgeblich stattfinden? Müssen wir uns davon verabschieden, dass ein Mensch-zu-Mensch-Kontakt stattfindet. Wird sich alles ins Web verlagern, in Foren und Communities. Und selbst wenn das Internet in die reale Welt mündet, was bleibt noch von der Mensch-zu-Mensch-Beziehung?

Nils Müller: Das ist immer komplementär. Es gibt immer Situationen, in denen mir die digitalen Medien schneller weiterhelfen. Es gibt aber auch Situationen, bei denen mir Menschen im direkten Kontakt besser weiterhelfen und es gibt Situationen, in denen ich mich an ein Callcenter wende. In fünf Jahren ist vermutlich das Outernet besonders wichtig – eben weil da, wie schon gesagt, die Produkte selber intelligent werden und direkt der Touchpoint sind.

Wenn Sie früher eine Schreibmaschine gekauft haben, dann mussten Sie wirklich irgendwo anrufen oder irgendwo hingehen, wenn etwas kaputt war. Jetzt aber, wenn Sie einen Laptop wie ich haben, drücken Sie schlicht auf eine Taste. Genauso wie beim BMW ConnectedDrive. Sie drücken einfach auf den Knopf und sagen: „Ich habe hier ein Problem.“ Das heißt, wir vernetzen jetzt nicht nur Mensch-Mensch, sondern people, things, places und time. Das sind die vier Dimensionen: p-t-p-t.

VOICE Community: Sie sagen also, in Zukunft wird der Kunde Services über intelligente Produkte in Anspruch nehmen und Informationen, die heute noch mühsam telefonisch oder im Web abgefragt werden müssen, können über die Netzverbindung des Produktes geliefert werden? Das stellt dann ja auch eine andere Art der Kommunikation zwischen Unternehmen und Kunde dar. Wie verändert sich denn aus Ihrer Sicht das Kräfteverhältnis zwischen Unternehmen und Kunde?

Nils Müller: Ich glaube, dass durch die Digitalisierung die Transparenz massiv steigt. Jeder hat jetzt Zugang zu allen möglichen Informationen. Und durch diese Transparenz ist natürlich der Nutzer oder Kunde in einer Vormachtstellung, weil er unter Umständen – genau wie Sie sagen – über mehr Informationen verfügt als der Mensch auf der anderen Seite der Leitung im Callcenter, eben weil er sich schon vor seinem Anruf informiert hat. Durch diese Transparenz hat der Kunde einen Wissensvorsprung. Und damit die Marke noch immer einen Vorsprung hat und einen Mehrwert liefert, muss sie Leistung und Qualität steigern.

Auch die Anzahl der Player wird größer durch die Transparenz. Dadurch, dass wir plötzlich alles im Internet oder in digitalen Medien recherchieren können, werden wir auch auf ganz viele neue Player aufmerksam: Habe ich z.B. ein Problem mit meinem iPhone und will wissen, wie ich mein iPhone an mein Outlook anschließen kann, rufe ich natürlich nicht bei Apple an, sondern schaue im Internet nach. Und dabei sehe ich, dass sieben andere Handyhersteller eine sehr gute Outlook-Integration bieten. Damit steigt – aus Sicht des Kunden – die Anzahl der Player. Ich sehe also: Sony Ericsson und Nokia können das auch, das ist ja interessant. Da muss man als Unternehmen natürlich zusehen, dass man im Ranking ganz weit oben bleibt. Zuhören ist dabei ganz wichtig. Früher haben Unternehmen einfach in den Markt hinein geschrien und hatten ihre Markenbotschaften und somit eigentlich die Kontrolle – den Hebel in der Hand. Jetzt, durch das Web2.0, sind die Kunden plötzlich untereinander im Dialog und Unternehmen müssen viel mehr zuhören als vorher. Sie müssen genau verfolgen, worüber ihre Kunden sprechen, womit sie sich beschäftigen. Und genau dieses Ohr brauchten Unternehmen früher ja gar nicht. Früher mussten die Unternehmen nur schreien können. Wer am lautesten geschrien hat, hatte gewonnen. Diese Zeiten sind vorbei.

VOICE Community: Im Service-Kontext wird derzeit viel darüber diskutiert, wie ich auf diese Informationen, die in den sozialen Medien abgelegt werden, reagieren kann, wie ich quasi in Interaktion treten kann. Einige Firmen bieten Tools, mit deren Hilfe die relevanten User-Posts gefunden werden können. Und dann lässt sich ein Serviceteam darauf ansetzen. Andere setzten auf den Aufbau einer Wissensdatenbank, die Servicemitarbeiter in der Lage versetzt, besser auf Kundenanfragen zu reagieren, weil ihnen damit auch das Wissen der Crowd zur Verfügung steht. Geht man noch einen Schritt weiter, lässt sich basierend auf diesen Wissensdatenbanken richtig interagieren, beispielsweise über einen Chatbot.

Nils Müller: Ich glaube, beides ist wichtig. Zuhören: Worüber sprechen unsere Kunden gerade und als Marke auf Augenhöhe mitdiskutieren, einfach an diesem Dialog teilnehmen – aber ganz echt und ehrlich. Und zweitens: Lernen. Zuhören und Lernen. So eine Wissensbasis kann ja auch als Schulungsmaterial für Callcenter-Mitarbeiter genutzt werden.

VOICE Community: Ihre zentrale These lautet ja: Der Service muss Teil des Produktes werden. Welche Wege führen denn aus ihrer Sicht dahin und welche Firmen machen das schon zukunftsweisend?

Nils Müller: Wenn der Service Teil des Produktes ist, muss man diesen Service auch genau so wie das Produkt designen. Vergleicht man einmal, wie viel Geld in das Produktdesign gesteckt und wie viel Geld ins Servicedesign investiert wird, erkennt man eine Riesendiskrepanz. In Servicedesign wird viel weniger investiert. Dem Kunden aber bietet sich ja das Gesamterlebnis dar.

Angenommen ich bin Vodafone-Kunde und habe dort ein Handy erworben. Dann ist natürlich das Handy selbst ein Thema, aber auch die Netzanbindung oder der Tarif. Und ganz besonders wichtig ist: Wie wird mir geholfen, wenn ich Probleme habe und wie werde ich von meinem Provider unterstützt. Das heißt, der Service ist Teil des Gesamtmarkenerlebnisses. Und deshalb muss dieser Service auch genauso intelligent designt werden wie das Handy oder der Tarif usw.

Dafür müssen die Anbieter mit Designern zusammenarbeiten. Moderne Designer beschäftigen sich ja nicht nur mit dem Auge, sondern auch damit, was im Kopf stattfindet – sprich dem Prozessdesign. Und da sind wir wieder beim Ende der Warteschleife. Denn das muss in Echtzeit funktionieren. Das ist auch der Weg: Echtzeit, Zuhören, den Kunden involvieren, offene Plattformen schaffen, das Outernet in alle Produkte implementieren und sich mit Trends beschäftigen. Immer schauen, was macht der Kunde jetzt neues, was läuft auf Facebook oder Twitter.

Mein Rat ist, sich intensiv mit neuen Kommunikationstrends zu beschäftigen. Wenn man sich mit Trends beschäftigt, erkennt man rechtzeitig die neuen Möglichkeiten und hat auch die Zeit und die Ruhe, abzugleichen, ob ein neuer Trend zu einem passt. Hektisch wird es ja nur, wenn man merkt, ich bin irgendwie zu spät: „Oh, wir haben noch nichts im Web2.0 gemacht, aber alle machen jetzt auf Web2.0, dann müssen wir jetzt auch impulsiv handeln – das ist falsch.

VOICE Community: Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch.


Nils Müller
Ceo & Founder TrendONE

Nils Müller ist Gründer und Geschäftsführer von TrendONE. Im IBM Innovation Center startete er seine berufliche Laufbahn und absolvierte ein Masterstudium in Berlin, New York und Mailand. 2002 gründete er TrendONE.

TrendONE ist Europas Marktführer in der Analyse von Micro-Trends und Schlüsseltechnologien in schnelllebigen Branchen. Jump into the next digital revolution! Nils ist erfahrener Speaker, der sein Publikum mit seiner packenden Vortragsweise auf zahlreichen internationalen Veranstaltungen fesselt.

1 Kommentar

Witwe Bolte, Social Media und die Zukunft der Call Center « Ich sag mal 21. September 2010 - 14:51

[…] Die Echtzeitkommunikation über das Social Web werde den Kundenservice gründlich umkrempeln, sagt der Innovationsforscher Nils Müller von Trendone. „Wenn der Web-Service in Echtzeit funktioniert, muss er im Call Center natürlich auch in […]

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