Tod der Warteschleife

von Gunnar Sohn
17. September 2012

„Viele Unternehmen sind noch nicht über Social Media ansprechbar, jedenfalls nicht so wie über E-Mail oder Telefon. Ein Beispiel:

Als Abonnent von ‚Sky Go‘ konnte ich mich neulich nicht einloggen. Auf der Website findet man zwar ein Formular und eine E-Mail-Adresse. Die wollte ich aber nicht nutzen, weil ich ja sofort Hilfe brauchte. Einen Link zu Twitter oder Facebook gab es nicht. Dabei wäre das die beste Lösung gewesen. Ich war sowieso online, hätte eine Nachricht hinterlassen und schnell eine Antwort erwartet. Kunden mit ähnlichen Problemen hätten mitgelesen.

Hier gibt es enorm viel Potenzial“, so die Einschätzung von Mirko Lange von der Agentur Talkabout. Dabei bieten die Dialogmöglichkeiten des Social Web enorme Vorteile: „Die Kommunikation ist schriftlich, asynchron und dennoch fast in Echtzeit. Zudem gibt es keine Medienbrüche bei Links ins Internet, und es lassen sich simpel Daten austauschen. Über Dienste wie ‚Google+ Hangout‘ kann man auch in einen synchronen Gesprächsmodus wechseln. Die Qualität des Dialogs verbessert sich enorm“, so Lange. Nur findet eben dieser Dialog mit Kunden nicht mehr unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, wie beim Telefonat.

Synchron war gestern

An der Überlegenheit der asynchronen Kommunikation ändere das aber nichts, bestätigt Andreas Klug vom Software-Anbieter Ityx. „Gerade die schriftbasierten Interaktionen können analysiert und verwertet werden, um im Hintergrund gezielt Geschäftsprozesse anzustoßen. Diese Entwicklung ist vergleichbar mit der Automatisierung in der Automobilindustrie, wie sie die Japaner in den 1980er-Jahren vorangetrieben haben. Damals haben Umfragen der deutschen Industrie auch ergeben, dass kaum ein deutscher Hersteller Roboter einsetzt. Wer aber unbeweglich ist, nimmt sich selbst die Chance, wiederkehrende Arbeiten im Kundenservice zu erkennen und durch intelligente Software erledigen zu lassen“, erklärt Klug. In den kommenden drei Jahren werde man erleben, wie mehr und mehr Verbraucher sich dem Service-Diktat der Industrie entziehen, um ihre Anliegen via YouTube, Apps und soziale Netzwerke zu lösen. Mehr asynchron statt Telefon.

Die liebwertesten Gichtlinge im klassischen Kundenservice sollten sich so langsam auf diese Gemengelage vorbereiten. Die Servicekommunikation wird immer mehr im Hintergrund ablaufen und vom Kunden gar nicht mehr wahrgenommen.

„Man sieht nur noch das Ergebnis dieses Prozesses, beispielsweise über Remote-Steuerung, bei der ich als Anwender gar nicht mehr eingreifen muss. Es wird deutlich weniger Medienbrüche geben. Wenn mein Auto defekt ist, wird die Werkstatt direkt über intelligente Technologien informiert und entsprechende Maßnahmen eingeleitet. Ich muss gar nicht mehr zum Telefonhörer greifen“, so die Prognose von Ralf Schäfer, Abteilungsleiter Märkte und Perspektiven des Wissenschaftlichen Instituts für Infrastruktur und Kommunikationsdienste (WIK) in Bad Honnef.

Das virtuelle Fräulein vom Amt

Hinter einem Touchpoint, den der Kunde nach seinen Präferenzen auswählt, laufen unterschiedliche Dienste ab, die allerdings unsichtbar bleiben. Hier kommt das virtuelle Fräulein vom Amt ins Spiel. Auch der Netzwerkspezialist Bernd Stahl von Nash Technologies ist davon überzeugt, dass man von der Kommunikation überhaupt nichts mehr sehen wird. Die Netzintelligenz könne man überall abrufen – völlig unabhängig von den Endgeräten.

„Man kommuniziert über Endgeräte, die eigentlich keine mehr sind. Ein Geschäftskunde sagt beispielsweise seiner Armbanduhr, dass er nach Brüssel reisen wolle zu einem möglichst günstigen Preis. Er nennt noch das Datum und die Ankunftszeit. Die Anfrage geht ins Netz rein, das System sucht sich die Reiseportale, schaut nach den Übernachtungsmöglichkeiten und recherchiert völlig eigenständig alle notwendigen Informationen. Zurück kommen die kompletten Reiseunterlagen. Der Geschäftskunde legt seine Armbanduhr auf den Tisch, es erscheint eine 3-D-Ansicht und er braucht nur noch das für ihn Relevante auszuwählen. Man kommuniziert über Sprache mit anderen Systemen, Servern oder Menschen und am Ende kommt etwas zurück. Hier kommt das berühmte Fräulein vom Amt wieder – allerdings vollautomatisiert und virtuell“, prognostiziert Stahl.

Alles werde gesteuert durch ein hochintelligentes Netz auf Basis semantischer Technologien und völlig neuen Geschäftsmodellen. „Der Nutzer muss sich überhaupt keine Gedanken mehr machen über spezielle Endgeräte, die Auswahl von Diensten, das Netzwerk oder Serviceprovider. Er muss kein Ziel mehr eingeben über Telefonnummern, IP-Adressen oder Links. Alles das wird vom intelligenten semantischen Netz übernommen. Die Bedeutung der Anfrage wird automatisch in Einzelteile zerlegt, an unterschiedliche Ziele geschickt und zurück kommt der gewünschte Service oder das fertige Produkt“, so Stahl.

Die Call-Center-Branche sollte endlich die Stunde der Wahrheit und Ehrlichkeit einläuten, um sich von mittelmäßigen Konzepten zu lösen und ihre Nabelschau-Politik aufzugeben, fordert Bernhard Steimel von der FutureManagement Group. Von Warteschleifen und Alzheimer-Effekten in der Hotline-Beratung kommt man nur weg, wenn man ein besseres Verständnis von den neuen Nutzungsszenarien der Kunden entwickelt.


Auszug der The European-Kolumne: Tod der Warteschleife

Ausführlich erscheint dieser Beitrag in dem Band „Digitaler Dialog“, der auf der dmexco in Köln vorgestellt wurde.

0 Kommentar

andreasklug 17. September 2012 - 16:59

Reblogged this on Mein lieber Kokoschinski und kommentierte:
Warum viele Unternehmen das Potential von Facebook & Co. in bestimmten Servicesituationen immer noch nicht erkennen …

Antwort
marzinks 20. September 2012 - 12:42

Die meisten Unternehmen betrachten und verwenden Social Media leider immer noch als Pflichtübung. Man fühlt sich verpflichtet dort irgendetwas zu tun. Also verfasst man interne Social Media Guidelines und startet eine Seite bei Facebook, in den seltensten Fällen auch noch ein Twitter Profil. Damit ist die Pflicht erfüllt und das Thema Social Media abgehakt. Das man hier aber ein mächtiges Werkzeug zum direkten Dialog hat verstehen noch die Wenigsten. Insbesondere in Industrieunternehmen hat praktisch noch kein Umdenken statt gefunden. Das hier skizzierte Szenario wird vor allem in Deutschland sicher leider noch eine Weile Zukunftsmusik bleiben.

Antwort
gsohn 20. September 2012 - 15:14

Das ist leider so. Da hast Du vollkommen recht. Das Social Web wird zu sehr aus der Marketing-Brille betrachtet. Allerdings die alte Marketing-Brille mit der One-To-Many-Politik. Wo das hinführt, kann man am Fall von Base hier nachlesen: http://ichsagmal.com/2012/09/20/digitale-ignoranten-und-eine-frage-an-e-plus-base-wieso-nutzt-man-den-hangout-nicht-in-der-servicekommunikation/

Antwort
marzinks 20. September 2012 - 15:29

Die Frage die sich jetzt stellt ist also wann dieses Denken in den relevanten Bereichen ankommt. Die Tools sind ja eigentlich vorhanden. Ich denke da auch an interne Social Media Plattformen wie Tibbr zum Beispiel. Stattdessen verwenden die meisten Unternehmen strikt synchrone (Telefon) oder asynchrone (Mail) Techniken die auf verschiedenen Plattformen laufen. Was muss passieren damit integrierte Lösungen mit ihren deutlichen Vorteilen in der Breite akzeptiert werden?

Antwort
gsohn 20. September 2012 - 15:34

Vielleicht einige weitere kritische Blogpostings unter dem Titel „E-Plus (Base) und die Koberer der Reeperbahn: Wie man Herrengedecke vertickt und Vertragsänderungen blockiert“ http://ichsagmal.com/2012/09/19/e-plus-base-und-die-koberer-der-reeperbahn-wie-man-herrengedecke-vertickt-und-vertragsanderungen-blockiert/ 😉 Wer nicht hören will, muss fühlen!

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