Teil 1: Mehr Bienenstock weniger Lege-Batterie
Die bestehenden Organisationsmodelle haben ausgedient. Fordernde, selbstbewusste Kunden, die mobil, zeit- und ortsunabhängig kommunizieren und auf der gesamten Klaviatur der Medien und Kanäle spielen, erwarten flexible und wendig agierende Mitarbeiter und Customer Service Organisationen.
Agile und adaptive Strukturen, die sich analog zu einem Chamäleon den stetig wechselnden Anforderungen anpassen, bedeuten jedoch radikale Veränderungen. Der Wandel bedingt neue Führungsmodelle, Systeme und Prozesse.
Wie kann die Service Organisation mit Kundendynamik und veränderten Erwartungen mithalten?
Unternehmen stehen vor einem Dilemma: Die Geschwindigkeit, in der sich Märkte und Kommunikationsgewohnheiten verändern, ist größer als die Geschwindigkeit, in der sich Organisationen anpassen.
Kunden springen zwischen WhatsApp, SMS, Chat und Telefon hin und her, wechseln die Kanäle je nach Zweckmäßigkeit, Lust und Laune, gehen drei Schritte vor und einen zurück. Bevor ein Kunde heute zum ersten Mal mit einem Verkäufer oder mit einem Call Center Mitarbeiter Kontakt aufnimmt, um sich beim Kauf eines Produktes beraten zu lassen, hat er schon unzählige Kontaktpunkte – Customer Touchpoints – off- wie online erlebt. Dank Smartphone und mobilem Internetzugang wird die Kommunikation für Kunden zum multioptionalen Vergnügen.
Die Messlatte an exzellenten Service in der Kommunikation wird dank Unternehmen wie Amazon dabei immer höher gelegt.
„Warum kann mein Stromversorger nicht auch innerhalb von zwei Stunden eine Antwort auf meine E-Mail-Anfrage geben? „Warum muss ich bei meinem Mobilfunkanbieter eine halbe Stunde in der Warteschleife hängen, wenn der Rückrufservice bei Amazon innerhalb weniger Minuten zuverlässig funktioniert?“
Die Explosion der Kommunikationskanäle erfolgt mit einer enormen Dynamik und Wucht und trifft viele Call Center und Customer Service Organisationseinheiten unvorbereitet. Die Zeitspanne, in der sich neue Medien – wie z.B. Instant Messaging – etablieren, ist extrem kurz und deckt sich nicht mit den bisherigen Erfahrungswerten der Unternehmen. Fax und E-Mail haben viele Jahre benötigt, um sich einen Platz neben dem Telefon als Kommunikationskanal zu erobern. Die „jungen Wilden“ wie Chat, Co-Browsing oder Apps krempeln Märkte über Nacht um.
Was kann die Service Organisation von agiler Software-Entwicklung lernen?
Flexibilität, schneller Wandel, hohe Geschwindigkeit bei der Adaption neuer Medien und kreatives Chaos auf der Kundenseite stehen einem Organisationsprinzip von Ordnung, Beherrschbarkeit, Budgetierung, Kontrolle und Planbarkeit gegenüber. Sehr viel gegensätzlicher waren Kundenerwartungen und Organisationsprinzipien nie.
Dass sich Organisationen ändern müssen und werden, sieht man gut am Beispiel der Software-Entwicklung. Der klassische Ansatz: Anforderungen definieren, Pflichtenheft schreiben, Programmieren, Testen, Pilotieren funktioniert nicht mehr. Von der ersten Planung bis zum fertigen Systeme verstreicht zu viel Zeit. Die Methode ist zudem starr und lässt keine Flexibilität bei Änderungen zu, nachdem die Anforderungen definiert wurden. Hier hat sich mit Scrum ein neuer Ansatz entwickelt, der den heutigen Anforderungen Rechnung trägt.
„Der Ansatz von Scrum ist empirisch, inkrementell und iterativ. Er beruht auf der Erfahrung, dass viele Entwicklungsprojekte zu komplex sind, um in einen vollumfänglichen Plan gefasst werden zu können.
Ein wesentlicher Teil der Anforderungen und der Lösungsansätze ist zu Beginn unklar. Diese Unklarheit lässt sich beseitigen, indem Zwischenergebnisse geschaffen werden. Anhand dieser Zwischenergebnisse lassen sich die fehlenden Anforderungen und Lösungstechniken effizienter finden als durch eine abstrakte Klärungsphase. In Scrum wird neben dem Produkt auch die Planung iterativ und inkrementell entwickelt. Der langfristige Plan (das Product Backlog) wird kontinuierlich verfeinert und verbessert. Der Detailplan (das Sprint Backlog) wird nur für den jeweils nächsten Zyklus (den Sprint) erstellt. Damit wird die Projektplanung auf das Wesentliche fokussiert. (Quelle: Wikipedia)“
Scrum verleiht einer Organisation die notwendige Agilität und die Qualität, sich reaktiv an sich verändernde Bedingungen anzupassen, kontinuierlich zu lernen und sich als Ganzes weiterzuentwickeln. Dieser Ansatz lässt sich auch auf Call Center und Customer Service Organisationen übertragen.
Wie viel Agilität steckt in der Customer Service Organisation?
Wie sehen die Organisationsstrukturen im Customer Service aus? Wie agil sind sie? Haben sich die Unternehmen analog zur Software-Entwicklung und der Einführung von Scrum im Customer Service bereits angepasst? Die traurige Wahrheit ist, dass es nur wenige agile Customer Service Organisationen gibt. Auch wenn man einzelne Projektteams und Initiativen vorfindet, die agil agieren, so muss man dennoch feststellen, dass sich die Customer Service Organisation als Ganzes nicht in diese Richtung entwickelt hat. Der Kraftakt für eine solche radikale Veränderung ist sehr groß.
Die Richtlinien und ungeschriebenen Gesetze einer Organisation zielen darauf ab, hunderte oder tausende Mitarbeiter auf festgelegte Ziele der Unternehmensstrategie einzuschwören: Gewinn-, Marktanteil- oder Umsatzziele, die vom Vorstand und den Aufsichtsratsgremien festgelegt und verabschiedet wurden. Controlling-Mechanismen, Quartalsberichte, Abweichungsanalysen – ein ganzes Paket an Instrumentarien wird in den Unternehmen eingesetzt, die gesteckten Ziele zu erreichen. Dieses Dogma mündet in einer rigiden, von Kontrolle geprägten Unternehmenskultur und hierarchisch, zentralisierten Abteilungen und Strukturen. Wie verträgt sich diese Kultur mit den Anforderungen des Marktes nach Agilität?
Wenn man Agilität als Thesen für die Service Organisation formuliert, bedeutet dies:
- Der einzelne Mitarbeiter und seine Interaktionen mit dem Kunden sind wertvoller und wichtiger als Kontrollmechanismen, Prozessvorgaben.
- Zufriedengestellte Kunden, fallabschließende Bearbeitung ist wertvoller und wichtiger als die Dokumentation der Daten im System
- Sich anpassen und verändern ist wichtiger als die Erfüllung des Plans und der Vorgaben
Es braucht eine gehörige Portion Mut, die bisherigen Strukturen, Entlohnungs- und Controlling-Systeme, Arbeitszeitmodelle und Führungssysteme abzulösen und durch eine agile Organisation zu ersetzen. Tief verwurzelt und über Jahrzehnte gewachsen gibt die bisherige Plan- und Kontrollstruktur eine Scheinsicherheit. Instinktiv wissen viele Customer Service Verantwortliche, dass das alte Modell ausgedient hat.
Wie sieht das Zielbild der Service Organisation in der Zukunft aus?
Das Neue – die agile, wenig planbare und auf Eigenverantwortung aufgebaute Struktur – ist unbekannt und flößt Angst ein. Ein Unternehmen, das sich den Risiken aber auch den Chancen des veränderten Kundenverhaltens bewusst ist und die Veränderung aktiv vorantreiben will, kommt an einer radikalen Umgestaltung der Organisationsstruktur nicht vorbei. Diese Struktur muss zugleich sehr flexibel und effizient sein.
Eine Organisation weiterhin als eine Pyramide zu betrachten – mit dem Vorstand, der Geschäftsführung an der Spitze, Direktoren, Abteilungsleitern auf den nächsten Ebenen und am Boden Sachbearbeiter und Call Center Agenten – passt nicht länger. Viel mehr sollten Unternehmen ihre Customer Service Organisation wie einen Bienenstock betrachten. Tausende von Waben und Bienen, die miteinander am gleichen Ziel arbeiten und doch jede Biene für sich unabhängig und als Individuum.