Mediziner sind nur durch Digitalisierung in der Lage, die Vitaldaten eines Patienten während des gesamten Behandlungs- und Heilungsprozesses zu überwachen. Der Arzt kann datenbasierte Entscheidungen treffen und es gibt neue Möglichkeiten der Therapie und Diagnose. Kliniken haben durch diese Fernüberwachung die Möglichkeit, ihre Belegung besser zu steuern und kostenaufwändige notfallmedizinische Maßnahmen zu vermeiden.
Auch für Krankenkassen entstehen daraus neue Geschäftsmodelle. Sie können beispielsweise Nachsorge-Lösungen mit Datenermittlung anbieten und im Gegenzug mit den Kunden Rabatte vereinbaren.
Ein Beispiel wäre eine App zur Ermittlung des Blutzuckergehalts, bei dem der Patient für eine Diät „gecoacht” wird, die eine (teure) Medikamentengabe verhindert. Solche Lösungen können dazu führen, dass die enormen Kosten des Gesundheits- systems langfristig sinken.
Messwerte als Basis für medizinische Produkte und Services
Viele langwierige Krankheiten wie Herzprobleme, Atemwegserkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Krebs oder Demenz erfordern eine ständige medizinische Überwachung des Patienten. Früher musste er hierzu regelmäßig in die Praxis kommen, heute geht das im Prinzip auch digital – entweder mit vernetzten, intelligenten Produkten aus der Medizintechnik oder mit dem Smartphone, das sehr leicht zum intelligenten Medizingerät aufzurüsten ist.
Erste Hilfe bei Herzbeschwerden – mit Smart- phone und App
Eine gefürchtete Situation in Flugzeugen: Ein Fluggast hat wegen der Druckverhältnisse Herzbeschwerden. Um hier schnell reagieren zu können, hat die gesamte Flotte der Lufthansa die mobile EKG-Lösung Cardiosecur an Bord. Dabei handelt es sich um ein nur 50 Gramm leichtes 12-Kanal-EKG-Gerät, das mit einem iPhone oder einem iPad verbunden wird. (Android wird im Moment nicht unterstützt). Die Daten werden via Satellit zu einer Auswertungsstation geschickt. Von dort erhält der Pilot die Auskunft, ob er auf dem nächstliegenden Flugplatz landen muss.
Weitere Möglichkeiten der Überwachung der Vitaldaten von Patienten sind moderne, meist dicht am Körper zu tragende Medizingeräte, die mit dem Internet der Dinge vernetzt sind und Daten an den Arzt oder das Klinikum senden. Sie gibt es in vielfältiger Form. So erkennen die smarten Socken von Siren über die Messung der Hauttemperatur, ob es zu Durchblutungsproblemen kommt – besonders wichtig für Diabetiker. Der smarte Patch von Moio wird am Rücken getragen und ermittelt den aktuellen Aufenthaltsort von Demenzpatienten innerhalb eines Krankenhauses. Der Medizintechnik-Hersteller Implandata hat speziell für Glaukom-Patienten einen Miniatur-Augendrucksensor entwickelt, der in das Auge selbst implantiert wird und Daten mit einem speziellen Handheld-Computer austauscht.
Dehydrierung vermeiden – mit einer smarten Trinkflasche
Moderne Medizingeräte sind leicht, arbeiten häufig mit einem Smartphone zusammen und messen praktisch alles. So ist es möglich, die Flüssigkeitszufuhr eines Patienten mit einer smarten Trinkflasche zu überwachen, um Dehydrierung zu vermeiden. Sie heißt Water.io und sieht nicht wie ein Medizinprodukt aus, eher wie eine Designer-Trinkflasche. Sie überprüft den Füllstand und sendet die Daten an eine Smartphone-App. Wenn die App feststellt, dass zu wenig getrunken wurde, sendet sie ein Signal an die Flasche, die anschließend eine optische Erinnerung mit Flackerlicht erzeugt.
Medizinprodukte dieser Art dienen in aller Regel der Langzeitbeobachtung von chronisch Kranken, sodass Behandlungsfortschritte schneller erkannt werden und der Arzt in Notfällen rascher eingreifen kann. Dadurch entsteht ein smartes Produkt, eine Kombination aus einem Medizingerät und einem bestimmten Service. Akteure in der Gesundheitsbranche wie beispielsweise Krankenhausketten oder Gemeinschaftspraxen können damit eine stabile Kundenbeziehung aufbauen: Wenn die medizinische Überwachung funktioniert, gibt es keinen Grund mehr, den Arzt oder das Krankenhaus zu wechseln.
Bessere Diagnosen und individuellere Behandlung dank Data Analytics und KI
Menschliche Aufmerksamkeit ist in der Medizin immer noch das wichtigste Werkzeug, führt aber auch zu Fehlern. Der Grund: Die meisten Menschen finden nur das, was sie suchen. Ein eingängiges Beispiel dafür ist ein Motorradfahrer, der nach einem Sturz mit Schulterschmerzen eingeliefert wird. Auf dem Röntgenbild entdecken die Ärzte in der Notaufnahme den Schlüsselbeinbruch, übersehen aber den Tumor in der Lunge – weil sie sich auf die Schulter konzentrieren (Quelle).
Solche Fehler lassen sich durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz weitgehend vermeiden. Vor allem die Auswertung von Bildern (Computer Vision) ist weit fortgeschritten. Sie werden von KI-Systemen schneller und gründlicher ausgewertet, als dies Ärzte können. Hier entstehen vielfältige Möglichkeiten im Gesundheitssystem. So können KI-Verfahren die Qualität von Hornhäuten feststellen, die für Transplantationen im Auge gespendet worden.
Andere KI-Systeme sind bereits heute in der Lage, Lungenkrebs oder Schlaganfälle auf Basis von CT-Scans zu diagnostizieren, Hautläsionen anhand von Hautbildern zu klassifizieren oder das Risiko eines plötzlichen Herztodes oder einer anderen Herzerkrankung auf Grundlage von Elektrokardiogrammen und Herz-MRT-Aufnahmen festzustellen. (Quelle).
Jeder Patient ist anders und benötigt eigene Medizin
Eine personalisierte Medikation ist das Ziel des Startups BioVariance. Es bietet Ärzten und Krankenhäusern eine Analyse der individuellen genetischen Besonderheiten jedes Patienten. Anschließend werden die Ergebnisse per künstlicher Intelligenz mit fundierten Erkenntnissen aus den Bereichen der Biologie, Pharmakologie und Medizin abgeglichen. Dadurch können bei der Behandlung unwirksame Therapien und Nebenwirkungen weitgehend vermieden werden.
Die individuelle, an eine bestimmte Person angepasste Medizin erfordert umfangreiche Datenanalysen, auf deren Basis Ärzte evidenzbasierte Entscheidungen treffen können. So bietet das Unternehmen Molecular Health eine über eineinhalb Jahrzehnte aufgebaute Datenbank mit Informationen über klinische Studien, Wirkstoffe und Gen-Daten. Sie ist eine Entscheidungshilfe für die klinische Praxis und kann beispielsweise anhand einer Genom-Analyse der Patienten die passgenaue Medikation bei einer onkologischen Chemotherapie ermitteln.
Digital gesunden mit der optimalen Therapie
Die digitale Revolution ebnet nicht nur Prophylaxe und Diagnose, sondern auch völlig neuen Therapien den Weg. Das zeigt zum Beispiel die Mainzer Biotechfirma Biontech. In Kooperation mit dem US-Unternehmen Genentech arbeiten die Forscher an der Entwicklung individueller Impfstoffe, die eine Immunreaktion des Körpers gegen Tumorzellen auslösen (Quelle).
Das US-Startup ElementScience hat einen tragbaren Defibrillator entwickelt, der außen am Körper getragen wird und den Patienten beispielsweise bei Kammerflimmern sofort unterstützt. Das Joint Venture Syntropy (Merck und Palantir) sammelt die bislang isolierten Daten aus der frühen Pharmaforschung von Unternehmen und Forschungsinstituten, um sie für eine bessere Therapie von Krankheiten verfügbar zu machen.
Holomedizin: Mit der Datenbrille im OP
Die Operationssoftware Virtual Surgery Intelligence (VSI) ist eine cloudbasierte Anwendung, die aus MRT- und CT-Aufnahmen ein dreidimensionales Abbild konstruiert.
Anschließend wird es in der Mixed-Reality-Brille Microsoft HoloLens dargestellt. Der Chirurg kann sich jede einzelne Schicht der Abbildung anschauen und anschließend den zu operierenden Bereich virtuell herausschneiden. Während der OP blendet der Chirurg die Aufnahme über den Körper des Patienten und kann dadurch während der Operation einen Abgleich mit dem 3D-Modell machen.
Die Telemedizin kann auch in der Therapie helfen und den Aufenthalt von Patienten im Krankenhaus abkürzen. So sind Videokonsultationen, IoT-gestützte Vitaldatenmessung und Datenübertragung per Smartphone praktische Hilfsmittel, um bei leichteren Krankheitsfällen auf längere stationäre oder ambulante Versorgung zu verzichten. Die Genesung wird hierbei einfach zu Hause überwacht. Die Vitaldatenmessung erlaubt zudem ein schnelles Eingreifen, wenn ein Krankenhausaufenthalt oder eine genauere Untersuchung notwendig sein sollte.
Ein ähnliches Konzept ist Ambient Assisted Living, wie es beispielsweise in einer Wohngemeinschaft für Demenzkranke der Caritas in Duisburg umgesetzt wird. Zu den Elementen dieses Konzepts gehört unter anderem das Aktivitäten-Monitoring sowie ein automatisches Nachtlicht, das sich einschaltet, sobald ein Bewohner das Bett verlässt. Doch auch medizinische Informationen werden automatisch ermittelt: Ein Bettsensor liefert Informationen über die Schlafqualität, sodass die Therapie flexibel an die aktuelle Situation des Patienten angepasst werden kann.
Andere Formen von modernen digitalen Verfahren helfen ebenfalls bei der Therapie von Kranken, beispielsweise Mixed Reality mit Datenbrillen oder der Einsatz von Additive Manufacturing oder 3D-Druck. Mit diesem Verfahren werden innerhalb kurzer Zeit Bauteile aus Metall, Kunststoff und Keramik hergestellt. Damit werden bereits passgenaue Prothesen und Implantate aus Keramik hergestellt, beispielsweise in der Zahnmedizin oder in der Knochenchirurgie.
Vor allem Geräte für den Druck mit Kunststoffen sind leicht und können an jedem beliebigen Ort aufgestellt werden. So halfen während der Coronakrise kostenlos bereitgestellte 3D-Drucker Krankenhäusern in der besonders stark betroffenen Region Lombardei in Italien. Sie konnten damit dringend benötigte Ventile für Beatmungsgeräte herstellen. In anderen Fällen gelang es durch den Ausdruck von modifizierten Anschlüssen, geschlossene Sporttaucher-Atemmasken zu medizinisch wirksamen Atemmasken umzurüsten.
Medizinischer Fortschritt mit Open Innovation
Hilfsmittel wie Datenbrillen und 3D-Drucker zeigen es: Im Gesundheitssystem sind zahlreiche Innovationen möglich. Doch sie finden nicht in einem Vakuum statt. Organisationen des Gesundheitswesens müssen Kreativität, Zusammenarbeit und unkonventionelles Denken fördern.
Im häufig durch schnelle Entscheidungen und dicht getakteten Prozessen stimmten medizinischen oder pflegerischen Alltag fehlt häufig der Raum zum Nachdenken über Innovation. Alle Akteure in der Gesundheitsbranche, vom medizintechnischen Unternehmen über das Krankenhaus bis hin zum Pflegedienst, sollten einen speziellen Raum für Innovation schaffen. Dabei geht es in erster Linie darum zu experimentieren und zu lernen.
Neue Wettbewerber und sich verändernde Kunde- nerwartungen verwandeln auch das Umfeld für Versicherungen durch die Digitalisierung grundlegend. Im neu gegründeten Debeka Innovation Center (DICE) definiert das Unternehmen gemeinsam mit Detecon eine völlig neue Arbeits- und Innovationskultur. Die Versicherung hofft, durch die Bündelung der Digitalisierungs- und Kulturinitiativen eine bessere Wettbewerbsfähigkeit in der Zukunft zu erschaffen.
Einige Unternehmen und Institutionen bieten Innovationspartnerschaften an, die auch von kleineren Akteuren in der Gesundheitsbranche genutzt werden können. So erlauben die Innovationslabore von Zeiss und der Helmholtz Gemeinschaft den Akteuren aus der Gesundheitsbranche, gemeinsam mit Wissenschaftlern und Partnern aus der Wirtschaft auf Augenhöhe Innovationen zu entwickeln. Die enge Interaktion zwischen den Akteuren trägt dazu bei, frühzeitig andere Perspektiven in die Entwicklung von intelligenten, smarten Produkten und Services einzubringen – ein erfolgskritisches Element von Open Innovation.
Dies ist ein Auszug aus unserer neuen Studie „Trendbook Smarter Health“. Hier geht‘s zum Download.